Donnerstag, 28. März 2024

Rupert Neudeck: „Die Pest war eine Art Bibel für die humanitäre Arbeit“

Albert Camus – Romancier, Philosoph und Gewinner des Literaturnobelpreises. Aber noch mehr als das war er eine Art Inspirationsfigur für einen neuen säkularen Humanismus. Dem Atheismus wird oft vorgeworfen, er habe keine überzeugenden Argumente, um zum aufopfernden Handeln zu motivieren. Camus scheint jedoch der große Sprung gelungen zu sein, am Atheismus festzuhalten und dennoch zum Humanismus zu motivieren. Eine Spurensuche nach den humanistischen Motivationsquellen.

Rupert Neudeck: Camus motiviert zum Humanismus

Rupert Neudeck studierte in Münster Theologie und Philosophie, bevor er 1961 in den Jesuitenorden eintrat. Nach seinem Austritt aus dem Orden promovierte er in Philosophie mit der Arbeit: „Die politische Ethik bei Jean-Paul Sartre und Albert Camus“ (1975). Am Titel der Arbeit wird bereits erkenntlich: Es sind dezidiert atheistische Philosophen, denen er seine Aufmerksamkeit in Fragen des rechten Handelns zuwandte. In einer Dokumentation auf Arte mit dem Titel „Albert Camus, Lektüre fürs Leben“ von Joël Calmettes (2013) sagte Neudeck:

„Ich denke, dass Camus einer der ganz wenigen ist, die Hoffnung möglich sein lassen, ohne dass man eine transzendente Quelle hat. Es gibt die Möglichkeit diese Hoffnung möglich zu machen, die darin besteht, dass man mit anderen für andere etwas von seinem Glück abgibt und sich nicht mehr schämen muss, alleine glücklich zu sein.“ – Rupert Neudeck

Die Stelle, auf die sich Neudeck bezieht, ist ein Dialog im Roman „Die Pest“ zwischen dem fiktiven Arzt Dr. Rieux und dem Journalisten Rambert. Die Beulenpest ist in der fiktiven nordafrikanischen Stadt „Oran“ bereits voll ausgebrochen. Die Situation spitzt sich zu und Rambert sagt zu Dr. Rieux: „ich gehe nicht weg, ich will bei Ihnen bleiben.“ Rambert würde sich schämen, ginge er weg. Dr. Rieux entgegnet daraufhin, dass man sich nicht zu schämen brauche, das Glück vorzuziehen. Rambert entgegnet darauf: „Aber man kann sich schämen, wenn man ganz allein glücklich ist.“ Diese Entgegnung Ramberts ist für Neudeck die zentrale humanitäre Motivationsquelle – „über diesen Satz hinaus brauche ich nichts mehr“.

Weiterhin nennt Neudeck in derselben Dokumentation Camus Roman “Die Pest“ „eine Art Bibel für die humanitäre Arbeit“. Das ist interessant und verwunderlich zugleich, zum einen weil „Die Pest“ wohl keine „Bibel“ sein will und auf der anderen Seite zu fragen ist, ob „Die Pest“ wirklich eine moralische Motivationsquelle sein kann.

Am Absurden festhalten und dennoch zum Humanismus motivieren

Zwar hat „Die Pest“ Camus‘ nicht mehr die Anziehung vergangener Jahrzehnte, aber es strahlt dennoch als ein literarisches Hauptwerk mit Anklängen an die existenzialistische Philosophie. Für den Arzt Dr. Rieux bleibt die Pest im Gegensatz zu seinem religiösen Pendant, dem Jesuitenpater Paneloux stets absurd. Sie ist keine Strafe Gottes, sondern einfach nur grausam. Der Mensch muss nach Rieux handeln, weil Gott schweigt. Angesichts des grausamen Todes kleiner Kinder wird die Revolte „gegen die Weltordnung“, „gegen die Schöpfung, so wie sie ist“ und gegen Gott zur Handlungsmotivation. Rieux hilft, weil er muss; er ist Arzt und Humanist. Die Pest bedeutet für ihn „eine Niederlage ohne Ende“. Als seinen großen Lehrmeister sieht er „das Elend“.

Aber es gibt auch noch was Anderes, das leise und ohne Empörung daherkommt, etwas, das einfach nur aus Menschlichkeit Motivation zieht: „Nach einem Schweigen richtete sich der Arzt etwas auf und fragte, ob Tarrou eine Vorstellung von dem Weg habe, den man einschlagen müsse, um zum Frieden zu kommen. ‚Ja, Mitgefühl.‘“.

Letztlich kann Camus das Absurde nicht auflösen und sieht in der Revolte „gegen die Weltordnung“ einen moralischen Imperativ. Ob dies „Hoffnung möglich sein [lässt]“, wie Neudeck postuliert? Sicherlich gibt es keine Hoffnung im Sinne einer göttlichen Gerechtigkeit, im Sinne einer leiblichen Auferstehung in der alle Tränen getrocknet und Leid in Freude gewandelt wird. Die religiöse Hoffnungsdimension lehnt Camus ab. Man ist radikal aufs Diesseits zurückgeworfen, so wie Nietzsche – von dem Camus stark beeinflusst war – es sich für den Übermenschen vorstellt: „In alle Abgründe trage ich da noch mein segnendes Ja-sagen.“ – Ja zum Leben sagen, trotz aller angenommenen letzten Absurdität.

Ein solches Leben muss sich jedoch immer im Kampf und Widerspruch beweisen. Im Kampf gegen das Absurde und menschlich sein im Widerspruch zur „Schöpfung, so wie sie ist.“ Doch wie soll „eine glückliche Stadt“ möglich werden, wenn das letzte Wort doch dem Absurden vorbehalten bleibt?

Literatur:

Camus, Albert, Die Pest. Deutsch von Uli Aumüller, Berlin 792012.

8 Kommentare

  1. Camus hat in der „Revolte gegen die Weltordnung“ als „Revolte gegen den Schöpfer“ m.E. eines vollkommen missverstanden:
    Das, was er „Weltordnung“ oder „Schöpfungsordnung“ nennt, ist nach einem verständigen christlichen Denken nicht die „Schöpfungsordnung“, sondern die schwindende, scheinbare Stabilität der „Natur“ nach dem Sündenfall, das, was in Gen. 3 beschrieben wird: Sterbenmüssen, Schweiß des Angesichts, Sisyphusarbeit des Mannes und Geburtsschwäche der Frau, der „verfluchte Erdboden“, maskuline Dominanz, der Hinauswurf aus dem Paradies.
    Das ist eine scheinbare Ordnung, keine wirkliche. Es ist eine Un-Ordnung. Es ist eine „Todes-Ordnung“.
    Was dem Menschen im Tod einen kurzen zeitlichen Aufschub gibt, ist gezeichnet von tödlchen „Ordnungen“. Das Genenannte führt zum Tod und verneint das Leben. In diesen tödlichen Ordnungen gibt Gott dem sterbenden Menschen Gnadenzeit.

    Nun hat die Kirche selbst zu diesem Missverständnis erheblich beigetragen, weil sie in ihrem Konstrukt vom „Naturrecht“ nicht klar genug unterschieden hat zwischen dem, was wirklich Schöpfungsordnung ist und dem, was Todesordnung nach dem Sündenfall ist. Auch die Schöpfungsverehrungen, die aus den Aktionen des Franziskus herausklingen, verfehlen m.E. diesen Unterschied!

    Camus‘ Revolte ist daher nicht „blasphemisch“, wie es in einem Kommentar von gestern hier heißt, sondern der irrige Versuch, gegen diese Todesordnung anzurennen – als Gefallener, geschwächter Mensch, der am Ende doch stirbt. Camus schreibt diese Schöpfungs-Un-Ordnung dem Schöpfer zu und erfasst nicht, dass es die Todesordnung ist, die der Mensch sich selbst erwählt hat.

    Und das macht wiederum die „Absurdität“ in der Camus’schen „Absurdität“ aus.

    Ich frage zurück: Was sollte einen Menschen motivieren, alleine glücklich sein zu wollen, wenn ihm nicht zuvor ein vernünftiges und göttliches Bewusstsein der Gemeinschaft und Liebe vertraut gemacht worden ist?
    Das „Mitgefühl“ – ähnlich wie im Buddhismus – führt eben nicht zu einer solchen Scham über den Egoismus, sondern zur Distanz und dem Bestreben, der Todesordnung sogar noch zuvorzukommen. Buddhistische Meditation erstrebt eine Überwindung der „Illusion“ des Daseins, dessen Ordnungen Hass, Ignoranz und Gier seien. Der so religionslos Religiöse will dem eigenen Tod durch vorheriges Verlöschen zuvorkommen.

    Zu etwas anderem reicht es mental letztendlich auch bei Camus nicht hin. Rupert Neudeck zehrt noch von seinem christlichen Kinderspeck – ohne ihn hätte er keinerlei Begriff von „Humanität“ haben können.
    Das echte Christentum ist „Licht der Welt“. Ohne es wären all diese Entwürfe blanke Finsternis ohne einen Schimmer scheinbarer Hoffnung. Mit dem Licht der Welt sind sie schwach illuminierte Trabanten des wahren Glaubens.

    • Da habe ich ein „nicht“ vergessen im 5. Absatz. Es mus natürlich heißen:

      „Was sollte einen Menschen motivieren, nicht alleine glücklich sein zu wollen, wenn ihm nicht zuvor ein vernünftiges und göttliches Bewusstsein der Gemeinschaft und Liebe vertraut gemacht worden ist?“

    • Ich schrieb übrigens nicht „ist blasphemisch“, sondern „kommt vergleichsweise blasphemisch daher“ und bin Camus gewissermaßen an die Seite gesprungen, in dem ich für das, was er vermutlich meint, eine einwandfreie Formulierung von Chesterton zitiert habe.^^

    • Aber ja doch, Nepomuk, das habe ich schon verstanden, aber bei Chesterton fehlt mir eben die klare Aussage, dass diese pervertierte Ordnung mit den scheinbaren „Ordnungs“- Implikationen aus Gen. 3 tatsächlich dem Tod geweiht und Folge der Sünde des Menschen ist und nicht einfach nur eine Folge „satanischer Unterdrückung“ der „göttlichen Ordnung“ in den Herzen.

      Das ist mir so zu „manichäisch“. Denn wenn es so manichäisch ist, könnte man Camus sogar ein wenig rechtgeben.

      Ich sehe bei Camus aber, dass er diese pervertierte Ordnung bzw. das vom Menschen willentlich ergriffene „das Böse Erkennen“ unterschätzt, wenn er glaubt, man könne dieses Erkennen segnend und jasagend durchschreiten. Das klingt so, als habe man die Wahl zu solcher Überlegenheit. Wer sind wir aber, dass wir diese heroische, quasi-göttliche Wahl hätten?
      Wir haben sie nicht!

      Vermutlich hat auch Eva genau das unterschätzt und mit ihr Adam, der von Gott das ausdrückliche Verbot erhalten hatte, „das Böse zu wissen“, denn wer es erkennt, ist ihm schon verfallen. Ihr ging es darum, ihr Wissen und ihre Erkenntnis zu erweitern. Sie ahnte nicht, dass die Erkenntnis dessen, was das Gute verneint nur „funktioniert“, wenn man es als „seinend“ anerkennt, auch wenn es das gar nicht ist.

      Es ist – sagen wir es doch – blasphemisch, sich einzubilden, man könne diese Todes-Un-Ordnung auch noch segnen und bejahen und dabei ein Held des Guten sein.
      Denn es ist keine manichäische Polarisierung, in der wir uns befinden, sondern ein Zustand des Sterbens der guten Ordnungen in uns, um uns und um uns herum. Wir sehen noch, wie gut die Schöpfung angelegt ist und sind unfähig, sie oder uns zu halten.

      Camus und Neudeck und alle Humanisten werden ihr Konzept nicht mehr aufrechthalten können, wenn das Christentum erloschen sein wird.

  2. Zu der vergleichsweise blasphemisch daherkommenden „Revolte gegen die Weltordnung“ zitiere ich einmal die um Größenordnungen weiseren Worte Chestertons:

    „Für den Orthodoxen gibt es immer einen gewissen Punkt, der für die Revolution spricht: denn in den Herzen der Menschen wird Gott vom Satan unterdrückt [has been put under the feet of]. In der höheren Welt hat einmal die Hölle gegen den Himmel rebelliert. Aber in dieser Welt rebelliert – gerade jetzt – der Himmel gegen die Hölle. Für den Orthodoxen kann es immer eine [bestimmte Art von] Revolution geben, denn eine Revolution ist eine Restauration. Jeden Moment kann man ausholen, um der Perfektion einen Schritt näher zu kommen [strike a blow at], die seit Adam kein Mensch gesehen hat. Kein unveränderlicher Brauch, keine sich dauernd verändernde Evolution kann das ursprüngliche Gute zu irgendetwas anderem als zu etwas Gutem machen. Die Menschen mögen Konkubinen gehabt haben, seit die Kühe Hörner haben: dennoch gehören Konkubinen nicht zum Menschsein, denn das ist sündhaft. Die Menschen mögen unterdrückt worden sein, seit die Fische im Wasser schwimmen: dennoch gehören Menschen nicht unterdrückt, wenn Unterdrückung Sünde ist. Die Kette mag dem Sklaven, oder das Anstreichen der Hure, so natürlich vorkommen wie die Feder dem Vogel oder der Fuchsbau dem Fuchs: aber trotzdem sind sie es nicht, wenn sie sündhaft sind. Ich erhebe meine prähistorische Legende als Banner des Widerstands gegen eure gesamte Geschichte.“ (Orthodoxy VII)

    >>Sicherlich gibt es keine Hoffnung im Sinne einer göttlichen Gerechtigkeit, im Sinne einer leiblichen Auferstehung in der alle Tränen getrocknet und Leid in Freude gewandelt wird. Die religiöse Hoffnungsdimension lehnt Camus ab. Man ist radikal aufs Diesseits zurückgeworfen […]

    Das heißt, mit Verlaub, einen ziemlich prekären Zustand in großen Worten auszudrücken, dann aber so tun, als sei dies eine Lösung und nicht nur eine Beschreibung eines Problems. „Camus oder sonstige Atheisten sind radikal aufs Diesseits zurückgeworfen“ – ja, sind sie, und sie können einem deswegen leid tun.

    >>„In alle Abgründe trage ich da noch mein segnendes Ja-sagen.“

    Nur, um ein solches Ja zu sagen und es sich selber zu glauben, müßte man doch die Frage beantworten, *warum* man eigentlich ja sagt. Wenn das alles absurd ist… man erlaube mir, einmal frech und die modernen Sentimentalitäten ignorierend zu fragen: wieso eigentlich soll man dann nicht nein sagen?

    Das ist die Frage, und wenn ein Atheist eine echte *Antwort* bzw. einen sich plausibel anhörenden Antwortversuch findet, dann würde mich das durchaus interessieren.

    Nur: „Wir *dürfen* schlicht auf keinen Fall nein sagen“ ist keine Antwort, sondern eine moralisierende Aufforderung zu einem Glaubensakt.

    Nur daß unsere Glaubensakte gut begründet sind, der Atheist hingegen gewissermaßen die Gründe wegwirft und den Glaubensakt trotzdem verlangt.

    Daran dann Verrücktwerden wie Nietzsche (dessen Übermensch sich übrigens besonders durch einen ziemlich großen Psychopathie-Anteil auszeichnet und für humanitäres Mitgefühl gerade nicht herangezogen werden kann) ist eine nicht ganz unlogische Lösung. Die meisten Menschen freilich bringt ihre innere geistige Gesundheit dazu, lieber – mit welcher Ablenkung auch immer – gar nicht zu denken als auf solche Gedanken zu kommen.

  3. Ich habe die Pest noch nicht gelesen und beziehe mich daher ausschließlich auf die Auszüge hier.

    Der Frage, die zum Schluß gestellt wird, kann ich mich nur anschließen.

    >>Doch wie soll „eine glückliche Stadt“ möglich werden, wenn das letzte Wort doch dem Absurden vorbehalten bleibt?

    Eben.

    Weniger anschließen kann ich mich der Artikelzusammenfassung, derzufolge „Camus jedoch der große Sprung gelungen zu sein [scheint], am Atheismus festzuhalten und dennoch zum Humanismus zu motivieren“. Das sehe ich hier nicht. Und soweit ich sehe, behauptet es auch Camus selber nicht. Rupert Neudeck, gewiß; aber die Meinung hat er exklusiv. [Okay. Vielleicht nicht exklusiv. Jedenfalls ist sie stark anfechtbar.]

    >>„Ich denke, dass Camus einer der ganz wenigen ist, die Hoffnung möglich sein lassen, ohne dass man eine transzendente Quelle hat. Es gibt die Möglichkeit diese Hoffnung möglich zu machen, die darin besteht, dass man mit anderen für andere etwas von seinem Glück abgibt und sich nicht mehr schämen muss, alleine glücklich zu sein.“

    Von „Hoffnung“ ist zumindest hier überhaupt nicht die Rede. (Das stelle ich erstmal so fest.) Wovon ist die Rede? Von einem Antrieb, moralisch zu handeln. Warum? Weil man sich sonst schämen würde (bzw. „schämen kann“ – wobei, wenn man sich stattdessen auch genausogut nicht schämen kann, wie „kann“ eigentlich implizieren würde, sich die logische Frage aufdrängte, warum man sich dann nicht einfach entscheidet, es nicht zu tun.

    Mit anderen Worten, wegen diesem Dingsda, das mit G anfängt und mit ewissen aufhört.

    >>„’Aber man kann sich schämen, wenn man ganz allein glücklich ist.‘ […] über diesen Satz hinaus brauche ich nichts mehr.“

    Darauf wäre zu antworten: Sie vielleicht nicht.

    Aber daß den Menschen als Motivationsquelle ausreicht, daß sie sich sonst schämen „können“ (was, nebenbei bemerkt, eine reine Drohbotschaft ist), ist doch reichlich unrealistisch.

    [Zumal es an der zitierten Stelle entgegen der Lesart Neudecks nicht darum geht, sein eigenes Glück altruistisch zu verteilen, sondern ein Unglück auf sich zu nehmen, das – genaugenommen – die Last der anderen erst einmal nicht einmal verringert, also so quasi als Extra.]

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