Dienstag, 19. März 2024

Katholische Dandies

In Catholicism, the pint, the pipe and the cross can all fit together

G.K. Chesterton

Von Dr. Alexander Pschera

Der französische Dichter Charles Baudelaire sagte einmal, ein Dandy müsse permanent vor einem Spiegel leben und schlafen. Und er hat Recht: Ein Dandy, ein echter zumindest, einer also, der sein Leben unter die Idee des Dandy-Seins stellt und sich nicht nur stutzerhaft gibt, darf die Welt gar nicht erst zu Gesicht bekommen. Sie muß sich immer hinter dem Bild verbergen, das er von sich selbst hat. Dandys sind nicht nur Ich-besessen: Sie kennen nichts außer sich selbst. Ihr Leben kreist um ihre Person, ihr Aussehen. Dandys benötigen fünf Stunden zum Ankleiden und wienern ihre Stiefel mit Champagner – so zumindest erzählt man vom berühmtesten aller Dandys, George Bryan „Beau“ Brummell.

Der Dandy pflegt eine auratische Extravaganz. Er will strahlen und auffallen um jeden Preis. Dafür nimmt er sogar die Lächerlichkeit in Kauf. Die Normalität ist sein Hölle. Nochmals Baudelaire: „Ein Dandy kann niemals ein alltäglicher Mensch sein“. Dazu gehört auch, daß er sich die Hände keineswegs mit Arbeit schmutzig machen will. Dandys haben einen raffinierten Geschmack. Ihr ästhetisches Gespür ist bis aufs Äußerste verfeinert. Dandys leben mit allen Sinnen, sie existieren synästhetisch, in einer Welt vollendeter Schönheit. Hier hat der Schmutz der Straße, aber auch ihre Wahrheit, keinen Platz. Friedrich Kluges etymologisches Wörterbuch beschreibt einen Dandy als einen jungen Mann, der in „auffälliger Bekleidung Kirche oder Jahrmarkt besucht“ (1883). Auch die Gotteshäuser sind nur Kulisse, vor deren Hintergrund sich der Dandy abheben will. Die Welt ist dem Dandy nicht mehr als eine große Staffage für sein Ich. Sie ist sein Theater. Ein verspiegeltes Theater allerdings.

Der Dandy pflegt rücksichtslos den Ich-Kult – können Dandys überhaupt katholisch sein? Auf den ersten Blick wohl kaum. Ein Christ, der sich selbst zum Mittelpunkt des Universums macht, der alle Blicke auf sich lenkt und alle anderen Menschen konzentrisch um sich kreisen läßt, ist kein Christ. Auch Moral hat im Weltbild des Dandys keinen Platz, allerhöchstens als ein Stimulans für Verbotenes. „Alles ist erlaubt“ lautet seine Devise. Dandys kennen weder Nächstenliebe noch Verzicht, weder Selbst-Beherrschung noch Selbst-Losigkeit. Denn es ist ja genau dieses „Selbst“, auf das es ihnen so sehr ankommt.

Das Sujet dieser Überlegungen ist also ein arges Paradoxon. Was soll das sein, ein „katholischer Dandy“? Im besten Falle ist er ein gläubiger Christ, der der Auswahl seiner Anzüge und Krawatten viel mehr Beachtung schenkt, als es gerechtfertigt sein mag in einer Welt voller Risse und Katastrophen, die mehr denn je die volle, uneingeschränkte Aufmerksamkeit und Aktionsbereitschaft der Christen erfordert. Im schlimmsten Fall ist ein solcher katholischer Dandy ein Radikalästhet, der die Schönheiten der katholischen Kirche nur benutzt, um sich von der Masse abzugrenzen, einer, der sich katholisch gibt und inszeniert, ohne innerlich beteiligt zu sein und ohne die Bereitschaft mitzubringen, aufzubrechen. Ein Ästhet des Mysteriums also.

Doch ist das wirklich alles, was es über die Existenzform des katholischen Dandys zu sagen gibt? Wohl kaum. Eine solche Betrachtungsweise unterschätzt sowohl die Dynamik des Dandy-Seins, das ja immer unter dem Dilemma der Diskrepanz von Innen und Außen steht, als auch die formende und transformierende Kraft des christlichen Glaubens. Eine historische Spurensuche nach Existenzformen des katholischen Dandys offenbart Spielarten dieses Lebensentwurfs, der nicht umsonst immer wieder im Umfeld der katholischen Kirche auftaucht. Dafür gibt es gute Gründe: Sind doch Sinnenlust und Weltoffenheit, Ornamentik und Zeigefreudigkeit wichtige Merkmale unserer Kirche. Anders gesagt: Ein protestantischer Dandy ist schlichtweg ein Ding der Unmöglichkeit.

Zunächst gilt es darauf hinzuweisen, daß die Daseinsform des Dandys eine zutiefst kathartische sein kann, eine, die die Umkehr in sich trägt wie eine graue Miesmuschel eine samtweiche Perle. Die wahre Schönheit des Dandys ist nicht sein sterbliche Hülle, an deren Glanz und Pracht er so intensiv arbeitet, sondern seine unsterbliche Seele, die in dieser Hülle lebt. Ein Leben, das sich bis zum Überdruß dem Materialismus ergibt, um sich selbst zu reinigen – das ist die Heilskurve, die der Dandy durchlaufen kann. Dafür gibt es ein berühmtes Beispiel. Literarischer Inbegriff des dekadenten Dandys ist Jean Floressas Des Esseintes aus Joris-Karl Huysmans 1884 erschienenem Roman À rebours – Gegen den Strich. In einer Jesuitenschule erzogen, gibt sich des Esseintes rückhaltlos dem wollüstigen Ästhetenleben hin. Der Roman erzählt in byzantinischen Bildkaskaden und wollüstigem Sprachglitzer von seinen Bizarrerien.

Des Esseintes trinkt den Kelch des künstlichen Lebens bis zum letzten Tropfen aus – und hat am Ende gerade noch die Kraft, Gott für seine verfehlte Existenz um Verzeihung zu bitten. Der letzte Satz von À rebours lautet: „Herr, habe Erbarmen mit einem Christen, der zweifelt, mit einem Ungläubigen, der glauben will, einem Gefangenen des Lebens, der allein in der Nacht aufbricht, unter einem Firmament, das nicht mehr von den Schiffslaternen der alten Hoffnung erleuchtet wird!“ Das Leben des Dandies wird hier am Ende sichtbar als ein Leben in tiefer Hoffnungslosigkeit, als eine materialistische Existenz, deren hilflose Geste nichts anderes ist, als der armselige Versuch, die großartige und tiefe Schönheit Gottes nachzuahmen.

Der Dandy ist also der Gefangene seines eigenen Lebens, aus dessen buntem Käfig er nicht ausbrechen kann – es sei denn, er geht diesen Weg bis ans bittere Ende. Der Dandy ist ein Mensch, der Gott sein will, es aber nicht kann, und der an dieser Einsicht seine Katharsis erlebt. Huysmans, der dandyhafte Autor von À rebours, hat sich nach diesem Buch zum Katholizimsus bekehrt und Bücher geschrieben, die weiterhin sensualistisch glühen, die aber jetzt das christliche Mysterium ins Zentrum stellen (La CathédraleL’oblatLes foules de Lourdes). In En route (Auf dem Weg) aus dem Jahre 1895 hat Huysmans den Weg seiner eigenen Bekehrung beschrieben. Für seinen ehemaligen Weggefährten Léon Bloy, der sicherlich kein katholischer Dandy war, sondern der Gattung des « mystischen Bettlers » zuzurechnen ist, war diese Umkehr nicht glaubwürdig. Er persiflierte sie als en panne und zweifelte an der Aufrichtigkeit dieser Bekehrung.

Doch muß man dieser polemischen Einschätzung nicht folgen – wie denn auch vieles von dem, was Bloy über seine einstigen Freunde Huysmans und Villiers de L’Isle Adam, mit denen er das « Konzil der Bettler » gründete, sagt, cum grano salis zu lesen ist. Ein anderer großer katholischer Dandy, ja vielleicht seine Urform, Jules Barbey d’Aurevilly, dessen Sekretär Léon Bloy war und dem er seine eigene Konversion zu verdanken hat, legte in einer Rezension von À rebours ganz unpolemisch den Finger in die Wunde des Dandys Huysman’schen Zuschnitts: „Nach einem solchen Buch bleibt dem Verfasser nur noch die Wahl zwischen der Mündung einer Pistole und den Füßen des Kreuzes“. Der Dandyismus führt, zu Ende gelebt, an den Abgrund der Entscheidung, wem man folgen will: der Welt oder Jesus. Die Figur des dekadenten Dandys gelangt früher oder später an diesen Abgrund.

Barbey d’Aurevilly selbst vertritt eine andere Form des katholischen Dandys. Er ist niemals in die Dekadenz abgeglitten, sondern hat immer die Form gewahrt und die Grenzen beachtet, die vom Dandytum in den Nihilismus hinabführen. Er vertritt den Typus des idealistischen Dandys. Barbey d’Aurevilly war der erste Autor, der sich theoretisch mit dem Phänomen des Dandytums auseinandergesetzt hat (Du dandysme et de George Brumell, 1845) – viele Jahre vor Baudelaire (Le peintre de la vie moderne, 1863). Dandys zeichnen sich in Barbeys Analyse eher durch intellektuell-taktile, denn durch ornamental-textile Überlegenheit aus. Der Dandyismus ist, so Barbey, eine Lebensform, die alles zu nuancieren imstande ist und die einen beständigen Kampf führt gegen die Schwerkräfte des Seins: gegen die Bequemlichkeit und gegen die Langeweile, gegen den Trübsinn und die Dummheit. „Der Dandy ist ein nichtiger Souverän in einer nichtigen Welt“, so faßte es Barbey zusammen.

Diese Souveränität in der Nichtigkeit ist per se schon katholisch, faßt sie doch die conditio humana selbstbewußt und bescheiden zugleich zusammen, so eben, wie es einem Katholiken gemäß ist. Sie wurde bei Barbey in den Folgejahren eine genuin katholische, nachdem er, 38jährig, im Jahre 1846 zum katholischen Glauben seiner Kindheit und Jugend bewußt zurückkehrte. Seine elegante Toilette und sein extravagantes Auftreten legte er aber keineswegs ab. Im Gegenteil. Beredtes Zeugnis hierfür ist die Erzählung „Barbey d’Aurevilly als deutscher Spion“, die sich in Léon Bloys Sammlung Blutschweiß findet. Hier erzählt Bloy, wie Barbey beinahe vom Pariser Mob des Jahres 1871 gelyncht wird, weil er erhobenen Hauptes und mit feinen Lederhandschuhen in den Vororten des von den Deutschen belagerten Paris herumstolzierte.

Barbey schrieb – Georges Bernanos vielleicht ausgenommen – die einzigen Romane, die wirklich als das durchgehen können, was Martin Mosebach in einem lesenswerten Aufsatz als „katholische Literatur“ einzugrenzen und einzufangen suchte. Barbeys Theorie des katholischen Romans ist denn auch das wichtigste Ergebnis seines idealistischen katholischen Dandytums. Diese Theorie spricht dem katholischen Dichter die Aufgabe zu, die Sünde und die Verführung in ihrer ganzen Grellheit zu schildern. Der katholische Dichter soll nicht verklären, sondern er soll hinschauen. Er soll keine katholischen Kitsch produzieren, sondern sich an der Sündhaftigkeit der Welt abarbeiten.

Die Moralität des Dichters ist gerade dort zu suchen, wo er das Böse ästhetisch behandelt und damit vernichtet (Les DiaboliquesUn prêtre marié). Katholische Literatur offenbart sich also in einer bestimmten Art und Weise, wie sie die literarische oder künstlerische Form einsetzt, um das Böse zu begrenzen, dessen äußere Gestalt die Häßlichkeit ist. Und weil der katholische Dandy keinen Unterschied macht zwischen seinem Leben und seinem Denken respektive Dichten, werden bei ihm auch die sorgfältig ausgewählte Kleidung und sein Auftreten zu „katholischer Literatur“. Er ist ein wandelnder Gedanke, dessen Garderobe ihn über die Plattheiten des common sense erhebt.

Barbey erweist sich so auf überraschende Weise als ein Verfechter jener These von der „Häresie der Formlosigkeit“, mit der Martin Mosebach im Jahre 2002 den Verfall der katholischen Liturgie anklagte und damit eine dritte und vorläufig letzte Form des katholischen Dandytums ausrief. Ich möchte diese Form den symbolischen Dandy nennen, oder den „Dandy nach dem Dandytum“. Martin Mosebach ist seine bekannteste Verkörperung. Der symbolische Dandy schreibt sich und sein Selbst nicht mehr so offensiv und grell in die Öffentlichkeit ein, wie das ein Barbey noch getan hat – und tun konnte.

Denn heute, im Zeitalter der totalen Verfügbarkeit der Moden und Stile, ist Extravaganz nicht mehr eine Sache des Geschmacks, sondern nur noch des Geldbeutels. Wer feine Lederhandschuhe in unterschiedlichen Farben trägt, zeigt nur, dass er gute Bezugsquellen im Internet kennt. Einem höheren Ideal gibt er dadurch sicher keinen Ausdruck mehr. Der katholische Dandy muß sich, will er nicht im Mainstream der Mode verdampfen, gezwungener Maßen auf die Verteidigung von Bastionen mit hohem symbolischem Wert zurückziehen. Die Integrität der Liturgie ist ein solches genuin „dandyistisches“ Thema, und Martin Mosebach hat es zur bislang letzten Festung des katholischen Dandytums ausgebaut. Er hat sich dabei freilich auch dem Vorwurf des Ästhetizismus respektive der Oberflächlichkeit ausgesetzt. Was freilich barer Unsinn ist, liest man erstens seine Texte und denkt man zweitens über die metaphysische Dimension des Dandytums nach, wie sie hier, wenn auch auch nur oberflächlich, beschrieben wurde.

Was kommt danach? Kann es nach dem Post-Dandy Mosebach überhaupt noch katholische Dandys geben? Was ist ein entweltlichter Dandy? Ist nicht vielleicht die neue Bescheidenheit, die Papst Franziskus anmahnt, eine neue Form des Anders-Seins und der produktiven Extravaganz, und damit eine Metamorphose jenes Gedankens vom großen, vorbildlichen Einzelnen, wie ihn der Dandy verkörpert? Möglicherweise ist aber alles auch viel einfacher, viel katholischer. Von Chesterton, auch einem Dandy par excellence, stammt der schöne Satz: „In Catholicism, the pint, the pipe and the cross can all fit together”. Vielleicht ist das ja das Geheimnis des katholischen Dandytums.

Der Artikel erschien auf dem Blog Erste Zone von Dr. Alexander Pschera und darf mit freundlichen Genehmigung hier veröffentlicht werden.

5 Kommentare

  1. Es ist wohl richit, daß es natürlich Katholiken geben mag, die (bis zu einem gewissen Grad moralisch legitim) ins Dandyhafte gehen. Wenn die Definition nur „besucht die Kirche in auffälliger Kleidung“ ist: bitte, warum nicht.

    Es mag auch so sein, daß man den Dandy sich schlecht als Protestanten vorstellen kann, weil der Protestantismus mit seiner speziellen Art alle, auch die legitime, Extravaganz austreibt und nur die bürgerliche Anständigkeit, und zwar auch die sündhafte, übrigläßt. Man vergleiche den Ausspruch des Dandys (?) James Joyce zu der Dame, die von seinem Abfall vom Katholizismus erfuhr und ihn dazu beglückwünschte, Anglikaner geworden zu sein: „Gnä‘ Frau, ich hab meinen Glauben verloren, aber meine Vernunft hab ich noch.“

    Dennoch ist es doch offensichtlich so, daß die „Vollform“ des Dandys, wie sie dieser Artikel hier ja an sich sehr schön beschreibt, nur insofern zum Katholischen paßt, als der Dandy eben ein Noch-zu-Bekehrender ist, wie übrigens auch der berühmteste aller Dandys, Oscar Wilde, der (zumindest laut der englischen Wikipedia, die deutsche ist da zweifelhafter) als Katholik versehen mit der Letzten Ölung gestorben ist. Huysman darf, wie der Artikel richtig bemerkt, weiterhin in legitimer Sinnenlust schwelgen, Barbey sich weiter extravagant anziehen, aber Dandys sind sie nun eben nicht mehr.

    Was Chesterton betrifft, so deutet der Artikel diesen ganz entscheidend fehl. (Das ist auch der Grund, warum ich diesen Kommentar hier eigentlich schreibe.)

    Chesterton war nie ein Dandy und machte (ob man ihm darin nun zustimmen will oder nicht) zeitlebens seine Abscheu vor dem Dandytum ganz deutlich.

    Chesterton war ein katholischer Genußmensch, gerade so wie man sich einen solchen vorstellt (nur noch etwas dicker). Ein Dandy ist aber etwas anderes, und ein Dandy war er nicht.

    Was das Äußerliche betrifft: Dandys sind schlank, Chesterton war dick; Dandys trinken Wein und Sekt, Chesterton zwar auch Wein, aber zumindest was das Zitat betrifft, das Bier paßt gerade eher nicht zum Dandy; Dandys rauchen Zigaretten (was Oscar Wilde im „Bildnis des Dorian Grey“ ganz explizit fordert), Chesterton Zigarren und das Zitat erwähnt die Pfeife; Dandys sind extravagant angezogen, von Chesterton wird nichts dergleichen berichtet.

    Etwas weniger das Äußerliche betreffend, stellt es geradezu ein innerstes Mißverständnis des Dandytums dar (das der Artikel ja sonst so gut erklärt), wenn man ihn mit dem ganz normalen Menschen vergleicht, der zu den erlaubten Genüssen wie Pfeife und Pinte nicht nein sagt. Das sind vielmehr die ganz normalen Menschen (das Zitat richtet sich dagegen, darin einen Widerspruch zum Glauben zu sehen), und das Dandytum besteht gerade darin, alles sein zu wollen, nur nicht normal.

    • Aber lassen wir den Doctor commonsensicus selbst zu Wort kommen:

      „Hätte ich nur eine Predigt zu predigen, wäre es eine Predigt gegen die Hoffart. Je mehr ich von der Existenz und speziell von der modernen praktischen und experimentellen Existenz sehe, desto überzeugter bin ich von der Wirklichkeit der alten religiösen These überzeugt: alles Übel begann mit einem Versuch, sich einen Vorrang zu erwerben; einem Moment als, wie wir sagen könnten, die Firmamente selbst einen Riß querüber bekam, davon daß im Himmel jemand seinen Mund zu einer Spöttelei öffnete.

      Nun fällt an dieser These als erstes etwas ganz komisches auf. Von allen Thesen dieser Art wird sie am allermeisten allgemein als Theorie verworfen, und ganz universell akzeptiert in der Praxis. Moderne Menschen stellen sich vor, daß so eine theologische Idee ganz weit weg von ihnen ist, und formuliert als theologische Idee ist sie das wahrscheinlich auch. Aber tatsächlich ist sie zu nah, um noch erkannt zu werden. Sie ist so vollständig ein Teil ihrer Gehirne, Moralvorstellungen und Instinkte, ich möchte fast sagen Leiber, daß sie sie für selbstverständlich annehmen und danach schon handeln, bevor sie daran denken. Sie ist genaugenommen die volkstümlichste aller moralíschen Ideen, und doch fast gänzlich unbekannt als moralische Idee. Keine Wahrheit ist so unvertraut als Wahrheit und so vertraut als Faktum.

      Prüfen wir diese Tatsache mit einem geringfügigen, aber nicht ungefälligen Test. Nehmen wir an, der Leser, oder (vorzugsweise) der Verfasser geht in ein Wirtshaus oder einen anderen öffentlichen Platz sozialer Kommunikation, eine Ubahn oder Trambahn wäre auch recht, außer daß sie selten so lange und philosophische Diskurse erlaubt wie das gute alte Wirtshaus. Jedenfalls, nehmen wir irgendeinen Ort an, wo zusammengewürfelte aber gewöhnliche Leute sich versammen, die meisten arm, denn die Mehrheit ist nun einmal arm, einige mehr oder weniger wohlhaben aber eher das, was die Snobs „gewöhnlich“ nennen; eine durchschnittliche Handvoll Menschen. Nehmen wir ferner an, der Versuchsdurchführende eröffnet die Konversation, indem er in gesprächiger Form sagt: „die Theologen sind der Meinung, daß es einer der höheren Engelsintelligenzen war, die der Gegenstand höchster Verehrung werden wollte, statt ihre natürliche Freude im Selber-Verehren zu finden; dies dislozierte das Design der Vorsehung und verunmöglichte die volle Freude und Vollendung des Universums“. Nachdem er diese Bemerkungen gemacht hat, schaut der Versuchsdurchführende fröhlich und erwartungsvoll ringsherum, ob nicht die Gesellschaft ihn bestätige, und bestellt zur selben Zeit solche Erfrischung, wie sie dem Ort und der Zeit rituell angepaßt ist, oder er bietet vielleicht der Gesellschaft nur Zigaretten und Zigarren an, um sie für die Belastung zu bestärken. Wie dem auch sei, wir können gerne zugeben: so eine Gesellschaft wird eine gewisse Belastung darin finden, die Formel in obengenannter Form zu akzeptieren. Ihre Kommentare werden wahrscheinlich zusammenhangslos und gleichgültig sein, ob sie nun die Form „Herrschaftzei’n“ (ein schöner, in der Aussprache etwas verwischter Gedankte) [?, orig. „Lorlumme“] oder sogar „V’dammichnommal“ (ein greulicheres, zum Glück verhüllteres Bild [das Original ist nicht ganz so schlimm, „Gorblimme“, also „Gott mache mich blind“], oder bloß die unbewegte Form „Aha“ [orig. „Garn], ein Ausdruck, der frei von jeder doktrinellen und konfessionellen Bedeutung ist, wie unser staatliches verpflichtendes Bildungssystem. Kurz, wer die Theorie als Theorie einer durchschnittlichen Masse vorstellt, wird zweifellos herausfinden, daß er in unvertrauter Sprache spricht. Sogar wenn er die Angelegenheit vereinfacht und nur sagt, daß die Hoffart die schlimmste der sieben Wurzelsünden ist, wird er sofort den vagen und eher unbeliebten Eindruck hervorrufen, daß er ins Predigen verfallen sei. Aber er predigt nur, wonach sonst jeder lebt, oder zumindest will, daß jeder andere lebt.

      Lassen wir den wissenschaftlichen Beobachter dann mit der Geduld der Wissenschaft weiter fortfahren. Lassen wir ihn (oder jedenfalls lassen Sie mich bitte) an diesem Ort volkstümlicher Unterhaltung, was für einer er auch immer sei, verweilen und sehr akkurat eine Notiz machen (wonötig in ein Notizbuch) über die Art und Weise, wie gewöhnliche Menschen tatsächlich übereinander sprechen. Da er ein wissenschaftlicher Beobachter mit Notizbuch ist, hat er vermutlich vorher noch nie gewöhnliche Menschen gesehen. Aber wenn er genau zuhört, wird er einen gewissen Ton beobachten, wenn sie über Freunde, Feinde und Bekannte reden, einen Ton, der insgesamt ganz achtbar gesellig und taktvoll ist, obzwar nicht ohne starke Vorlieben und Abneigungen. Er wird ausgiebig, wenn auch manchmal verblüffende, Anspielungen auf die wohlbekannten Schwächen vom Alten Schorsch hören, aber auch viele Entschuldigungen, und einen gewissen großzügigen Stolz darin, zuzugeben, daß der Alte Schorsch, wenn er voll ist, sich wirklich wie ein Gentleman aufführt, oder daß er dem Polizisten aber spitzenmäßig herausgegeben hat. Irgendein berühmter Idiot, der andauernd Gewinner erspäht [wohl gemeint: beim Pferderennen], die nie gewinnen, wird mit fast zärtlichem Spott behandelt, und, speziell unter den Ärmsten, wird mit einem wahrlichen christlichen Pathos gereden in bezug auf jene, die „Schwierigkeiten“ hatten wegen Gewohnheiten wie Einbruch und Bagatelldiebstahl. Und wie nun alle diese komischen Typen wie Geister durch das Beschwören des Geschwätzes hervorgerufen werden, wird der Beobachtende schön langsam den Eindruck bekommen, daß es eine bestimmte Art Mensch, wahrscheinlich bloß eine Art Mensch, vielleicht nur einen Menschen, gibt, den man wirklich nicht mag. Die Stimmen nehmen einen ganz anderen Ton an, wenn sie von ihm sprechen; es liegt eine Verhärtung, eine Verfestigung und eine neue Kälte in der Luft. Und dies wird umso seltsamer sein als, gemäß der gegenwärtigen modernen Theorien sozialer oder antisozialer Aktion es gar nicht einfach sein wird zu sagen, warum er so ein Monster sein sollte, oder was genau das Problem mit ihm ist. Man wird es nur in einzigartigen Redefiguren andeuten, von einem Gentleman, der fälschlich überzeugt ist, daß ihm die Straße gehört oder manchmal, daß ihm die Welt gehört. Dann wird einer der sozialen Kritiker sagen: „Der kommp‘ hier ‚rein un‘ denkt dasser da Herrgott selber is“.

      An dieser Stelle wird der wissenschaftliche Beobachter sein Notizbuch schnappend zumachen und sich aus der Szene zurückziehen, möglicherweise nachdem er alle Drinks, die er um der sozialen Wissenschaft willen verzehrt hat, bezahlt hat. Er hat bekommen, was er wollte. Er wurde intellektuell befriedigt. Der Mann im Wirtshaus hat präzise und Wort für Wort die theologische Formel über Satan wiederholt.

      (If I had only one Sermon to Preach, aus: The Common Man)

    • und weiter:

      „Die Hoffart ist ein so giftiges Gift, daß sie nicht nur die Tugenden vergiftet, sie vergiftet sogar die anderen Laster. Dies fühlen die armen Menschen im öffentlichen Wirtshaus, wenn sie den Säufer, den Tippgeber und sogar den Dieb tolerieren, aber irgendetwas unholdhaft Falsches an dem Mann fühlen, der so eine nahe Ähnlichkeit zu dem Herrgott selber hat. Und wir wissen alle in der Tat, daß die Ursünde Stolz diesen setsam einfrierenden, verhärtenden Effekt bei den anderen Sünden hat. Ein Mann mag sehr beeindruckbar und in sexuellen Angelegenheiten eher unmoralisch sein, er mag sich vorübergehenden und unwürdigen Leidenschaften hingeben zum Schaden seiner Seele, und doch immer etwas behalten, was Freundschaft mit Leuten seines eigenen Geschlechts zumindest möglich, und sogar treu und befriedigend machen kann.
      Aber sobald dieser Mensch einmal seine eigene Schwäche als Stärke empfindet, haben wir jemand ganz anderen vor uns. Wir haben den Weiberhelden, den tierischsten aller möglichen Schurken, den Mann, bei dem sein eigenes Geschlecht fast immer den gesunden Instinkt hat, ihn zu hassen und zu verachten.

      Ein Mensch mag von Natur aus träge und eher verantwortungslos sein, er mag viele Pflichten durch Sorglosigkeit vernachlässigen, und seine Freunde können ihn immer noch verstehen – solange es wirklich eine sorglose Sorglosigkeit ist. Aber es ist der Teufel und überhaupt, wenn sie zur sorgsamen Sorglosigkeit wird. Es ist der Teufel und überhaupt, wenn er in überlegter Weise zum bewußten Bohémien wird, der aus Prinzip schmarotzt, die Gesellschaft im Namen seines eigenen Genies (oder eher seines eigenen Glaubens an das eigene Genie) plündert, wie ein König von der Welt steuern eintreibt auf Grund des Rechtstitels, er sei ein Poet, und Menschen, die besser als er selbst sind, verachtet, weil sie arbeiten, damit er verschwenden kann.

      Es ist keine Metapher zu sagen, das sei der Teufel und überhaupt. Nach derselben guten alten religiösen Formel ist das gänzlich vom Teufel.“

      (und obwohl das hier Bohémien heißt, beschreibt das doch ziemlich gut, wie wir uns einen Dandy so vorstellen, nicht?)

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