Freitag, 19. April 2024

„Warm die ersten Strahlen beben“

„Morgenandacht“ von Richard Fedor Leopold Dehmel (1863-1920)

Sehnsucht hat mich früh geweckt;
wo die alten Eichen rauschen,
hier am Waldrand hingestreckt,
will ich dich, Natur, belauschen.

Jeder Halm steht wie erwacht;
grüner scheint das Feld zu leben,
wenn im kühlen Tau der Nacht
warm die ersten Strahlen beben.

Wie die Fülle mich beengt!
so viel Großes! so viel Kleines!
wie es sich zusammendrängt
in ein übermächtig Eines!

Wie der Wind im Hafer surrt,
tief im Gras die Grillen klingen,
hoch im Holz die Taube gurrt,
wie die Blätter alle schwingen,

wie die Bienen taumelnd sammeln
und die Käfer lautlos schlüpfen –
oh Natur! was soll mein Stammeln,
seh ich all das dich verknüpfen:

wie es mir ins Innre dringt,
all das Große, all das Kleine,
wie’s mit mir zusammenklingt
in das übermächtig Eine!

Richard Dehmel 1905 auf einer Fotografie von Rudolf Dührkoop.

Richard (Fedor Leopold) Dehmel (1863-1920) wurde am 18. November 1863 in Hermsdorf bei Wendisch Buchholz in der Mark Brandenburg geboren. Nach dem Abitur studierte Dehmel ab 1882 in Berlin Naturwissenschaften, Nationalökonomie und Philosophie. Seine Studien schloss er 1887 mit einer Promotion ab. Im Anschluss war er im Versicherungswesen, beim Zentralverband Deutscher Privater Feuerversicherungen, in Berlin tätig.

1893 zog Dehmel nach Hamburg, wo sein Freund Detlev von Liliencron (1844-1909) lebte. 1895 war Dehmel einer der Mitbegründer der Zeitschrift PAN und widmete sich fortan hauptberuflich der Schriftstellerei. Während des Ersten Weltkriegs diente Dehmel, der sich freiwillig gemeldet hatte, an der Front. Er starb am 8. Februar 1920 an den Folgen einer Venenentzündung, die er sich im Krieg zugezogenen hatte.

Dehmels Gedichte, die auch von Kollegen wie Rainer Maria Rilke (1875-1926) oder Thomas Mann (1875-1955) geschätzt wurden, wurden von bedeutenden Komponisten wie Richard Strauss (1864-1949) , Arnold Schönberg (1874-1951) – „Verklärte Nacht“ aus dem Jahr 1899 – oder Kurt Weill (1900-1950) vertont.

Britta Dörre, zenit.org

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