Freitag, 19. April 2024

Zu Joseph Ratzingers Tübinger Vorlesungen

50 Jahre „Einführung in das Christentum“

Von Dr. Stefan Hartmann, Bamberg

Vor 50 Jahren, im Sommer 1968, im Jahr der internationalen Studentenrevolte, als Papst Paul VI. ein „Jahr des Glaubens“ mit einem persönlichen „Credo des Gottesvolkes“ abschloss und die umkämpfte Enzyklika „Humanae Vitae“ veröffentlichte, erschien Joseph Ratzingers Weltbestseller „Einführung in das Christentum“[1]. Er ist neben der späten Trilogie „Jesus von Nazareth“ (2007-2012) sein zentrales theologisches Werk, das in der Breiten- und Nachwirkung einmalig blieb und in die katholische Theologiegeschichte einging. Unter Mitwirkung seines damals bekannteren Kollegen Hans Küng erhielt der seit 1963 in Münster lehrende Konzilstheologe 1966 einen Ruf nach Tübingen: „Ich entschloss mich, Tübingen anzunehmen – der Süden lockte, aber auch die große Geschichte der Theologie an dieser schwäbischen Universität, in der außerdem interessante Begegnungen mit bedeutenden evangelischen Theologen zu erwarten waren.“[2] Mit dem Wintersemester 1966/67 trat Ratzinger seine Tübinger Professur in Dogmatik an und hielt dann im Sommersemester 1967 für Hörer aller Fakultäten die Vorlesungen „Einführung in das Christentum“. Damit wollte er an seinen wegen Naziverstrickung umstrittenen Vorgänger Karl Adam (1876-1966) anknüpfen und dessen lange maßgebliches Werk „Wesen des Katholizismus“ (1924).

Mehr als um „Katholizismus“ ging es Ratzinger um die Auslegung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses in unmittelbar nachkonziliarer Zeit. Die Mitte des christlichen Glaubens sollte wieder neu und überkonfessionell aufgezeigt werden. Theologie, Glaubensinhalt, Glaubensvollzug und Spiritualität finden zusammen: „Der christliche Glaube ist mehr als Option für einen geistigen Grund der Welt, seine zentrale Formel lautet nicht »Ich glaube etwas«, sondern »Ich glaube an Dich«. Er ist Begegnung mit dem Menschen Jesus und erfährt in solchem Begegnen den Sinn der Welt als Person. […] Christlicher Glaube lebt davon, dass es nicht bloß objektiven Sinn gibt, sondern, dass dieser Sinn mich kennt und liebt […] So ist Glaube, Vertrauen und Lieben letztlich eins, und alle Inhalte, um die der Glaube kreist, sind nur Konkretisierungen der alles tragenden Wende, des »Ich glaube an Dich« – der Entdeckung Gottes im Antlitz des Menschen Jesus von Nazareth.“[3]

Damit knüpfte Ratzinger in seinem Anspruch mehr als an Karl Adam an Vorlesungen Adolf von Harnacks um die Jahrhundertwende über „Das Wesen des Christentums“ an. Der junge und vom Konzil geprägte Professor repräsentierte, parallel zum 150-jährigen Bestehen der katholischen Tübinger Fakultät, mit seinem großen Wurf in neuer Weise die Tübinger Schule, die von Johann Sebastian Drey begründet wurde und für die vor allem Johann Adam Möhler und Franz Anton Staudenmeier stehen.

Neben dem Verkaufserfolg mit vielen Auflagen und Übersetzungen hat Ratzingers „Einführung in das Christentum“ auch Reaktionen bei Theologen hervorgerufen. Der bekannte Barth-Schüler Helmut Gollwitzer schrieb in seinem Geleitwort zur verbreiteten dtv-Taschenbuchausgabe der „Einführung in das Christentum“: „Ratzingers Buch ist ein Dokument der stürmischen ökumenischen Niederlegung alter Barrieren. … Der Leser, wo er selbst auch stehen möge, bekommt verständlich gemacht, wie christlicher Glaube sich unter den geistigen Bedingungen unserer Zeit darstellt, was Glaube im biblischen Sinne ist.“[4] Eine ziemlich harte Kritik war die Rezension von Walter Kasper in der Münsteraner „Theologischen Revue“[5]. Er sieht Ratzinger als Apologet des Faktischen, der Identität von geschichtlich Zufälligem und Notwendigkeit, und hielt ihm einen „platonisierenden Ausgangspunkt“ und den „Wirklichkeitsbegriff der griechischen Philosophie“[6] vor. Diesem von Kasper öfter wiederholten Vorwurf[7] widerspricht Ratzinger in einer scharfen Replik, in der er auf das Verhältnis von historischem Jesus zum Christus des Glaubens zu sprechen kommt: „Ich versuchte zu zeigen, dass der theologisch neutralisierte ‚historische Jesus‘ eben nicht der historische Jesus ist, sondern dass der wahre historische Jesus der Christus ist, dem wir glauben und der die Theologie in höchstem Maße angeht, weil ‚Jesus’ und ‚Christus‘ untrennbar ist und auf dieser Untrennbarkeit die ganze Theologie beruht […] Seit A. Schweitzer wissen wir, dass der historische Jesus der Liberalen ein unwirkliches Wesen war; ich glaube, wir werden bald auch ganz amtlich wissen, dass dasselbe auch vom historischen Jesus der Bultmannschule gilt“[8]. Die Unterstellung eines unbiblischen Platonismus und Hellenismus ist sicher nicht gerechtfertigt, ihm stehen klare Aussagen Ratzingers in der „Einführung“ entgegen.

Das Erfolgsbuch hat selbst eine Einführung unter dem Titel „Ich glaube – Amen“[9], die den Menschen zwischen Zweifel und Glaube sieht und das moderne naturwissenschaftliche Weltverständnis mit seinen Grenzen beschreibt. Im Vorwort bezieht sich Ratzinger auf die alte Märchen-Geschichte vom „Hans im Glück“, der nach und nach seinen Goldklumpen gegen Wertloseres austauscht und am Ende mit leeren Händen dasteht. Das sollte wohl keine Anspielung auf Hans Küng sein, aber so kann es enden, wenn – wieder spätere Papst befürchtete – Glaube, Theologie und Kirche sich allzu modernisierend ausverkaufen. Glaube hat biblisch mit Stehen, Verstehen, Vernehmen und somit auch Vernunft zu tun – ohne deshalb in einen Rationalismus oder Fundamentalismus abzugleiten. Glaube birgt aber auch ein Risiko: „Immer schon hat der Glaube etwas von einem abenteuerlichen Bruch und Sprung an sich, weil er zu jeder Zeit das Wagnis darstellt, das schlechthin nicht zu Sehende als das eigentlich Wirkliche und Grundlegende anzunehmen. Nie war Glaube einfach die dem Ge-fälle des menschlichen Daseins von selbst zu-fallende Einstellung; immer schon war er eine die Tiefe der Existenz anfordernde Entscheidung, die allzeit ein Sichherumwenden des Menschen forderte, das nur im Entschluss erreichbar ist.“[10] Dem rechnenden Machbarkeitsdenken der rein „instrumentellen Vernunft“ (Max Horkheimer), steht das geistliche Sinn- und Wahrheitsdenken gegenüber. Den in den 1960er Jahren immer attraktiver werdenden Marxismus sieht Ratzinger als bisher imponierendsten Versuch, die Verhaltensweise ‚Glaube‘ dennoch in die Verhaltensweise des Machbarkeitswissen einzuordnen. Doch auch dem, der zum Glauben sein „Amen“ sagt, der im Vertrauen und der Liebe lebt, bleiben Anfechtung und Dunkelheit nicht erspart. Daher ist der christliche Glaube – wie es Martin Buber für den jüdischen Glauben reklamiert – eben kein bloßer Dass-Glaube an Dogmen, sondern immer ein personaler Du-Glaube, der sich an Jesus Christus als Bruder und Herrn richtet: „Ich glaube an dich“[11].

Inhaltlich widmen sich die Vorlesungen Ratzingers dann den Artikeln des Apostolischen Glaubensbekenntnisses in drei Hauptteilen: Gott, Jesus Christus, der Geist und die Kirche. Die Gottesfrage wird biblisch angegangen und dem Gottesbild der Philosophen gegenübergestellt. Bekannt werden der Primat des Logos und der persönlich-dreieinige Gott. Jesus Christus ist selbst die Mitte des christlichen Glaubens. Geschildert werden die frühen christologischen Definitionen, Heiliger Geist und Kirche ermöglichen heilsgeschichtlich die innere Einheit aller Aussagen des Credo-„Symbolums“[12]. Die Kirche ist sakramentaler, liturgischer und spiritueller Ort der Anwesenheit Christi, nicht bloß eine Institution. Ihr kommt eine „unheilige Heiligkeit“ zu. „Die Kirche ist am meisten nicht dort, wo organisiert, reformiert, regiert wird, sondern in denen, die einfach glauben und in ihr das Geschenk des Glaubens empfangen, das ihnen zum Leben wird […] Die Kirche lebt ja nicht anders als in uns, sie lebt vom Kampf der Unheiligen um die Heiligkeit.“[13] Statt von Organisation wäre mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil von Organismus, Leib Christi und Volk Gottes zu sprechen.

Den in seiner „Einführung in das Christentum“ einladend und in nahezu augustinischer Rhetorik im Rahmen der Tübinger Universität bekannten Glauben hat Joseph Ratzinger als Erzbischof, Kardinal, Glaubenspräfekt und Papst weiter entfalten können. Es ist ein kleines Wunder der Kirchengeschichte, dass ein großer Theologe wie er das Amt des Petrusnachfolgers innehatte und dabei so souverän war, wegen der Beschwerden des Alters nach seinem 85. Geburtstag darauf zu verzichten. Der Erfolgstitel „Einführung in das Christentum“ aus dem Jahre 1968, der im Jahr 2000 vom Verfasser unverändert mit einem aktuellen Vorwort neu vorgelegt wurde, kann einladen, sich weiter in die Theologie des „Theologenpapstes“ zu vertiefen, sie zu rezipieren[14] und durch sie von unfruchtbaren Polarisierungen frei zu werden.

[1] Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis. Mit einem neuen einleitenden Essay, München 2000; jetzt auch in: Joseph Ratzinger Gesammelte Schriften (JRGS) 4, Freiburg 2014.

[2] Joseph Ratzinger, Aus meinem Leben. Erinnerungen 1927-1977, München ²1998, 138.

[3] Einführung in das Christentum, a.a.O. 72.

[4] München 1971, 1.

[5] „Das Wesen des Christlichen“, in: ThRv 65 (1969), 182-188.

[6] Ebd. 184f.

[7] So auch im späteren „Disput der Kardinäle“ vor der Jahrtausendwende um das Verhältnis von Universal- und Ortskirche. Vgl. Karl-Heinz Menke, Der Leitgedanke Joseph Ratzingers. Die Verschränkung von vertikaler und horizontaler Inkarnation, Paderborn 2008, 27-46.

[8] Joseph Ratzinger, Glaube, Geschichte und Philosophie. Zum Echo auf „Einführung in das Christentum“, in: Hochland 61 (1969),533-543; 538f.

[9] A.a.O. 31-73.

[10] Ebd. 46.

[11] Ebd. 71-73.

[12] Ebd. 313-341.

[13] Ebd. 326.

[14] Eine sehr verständliche und überschaubare Gesamtdarstellung seiner Theologie ist die Bonner Dissertation des südkoreanischen Priesters Benedikt Hankyu Cho, Universale Concretum. Die Bestimmung des unterscheidend Christlichen in den Gesammelten Werken von Joseph Ratzinger, Sankt Ottilien 2015.

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