Freitag, 29. März 2024

Der Heilige Andreas und sein Kreuz

Das Christentum schwindet aus dem Alltag des Abendlandes, so liest man überall. Was um uns herum existiert wird uns zunehmend fremd und rätselhaft. Gleich den Hirten auf dem Forum Romanum, die nur noch die Ruinen sehen und nicht mehr wissen, wie ein Aquädukt oder eine Fußbodenheizung funktioniert, umgeben den modernen Menschen Bilder und Symbole, die sie tagtäglich sehen, aber nicht mehr verstehen. Die Ironie des Zeitgeistes besteht darin, dass er den Menschen des Mittelalters für zurückgeblieben hält, obwohl die Damaligen sich in einer Welt befanden, deren Zeichen sie sofort deuten konnten. Heute dagegen bedarf es dicker Touristenbücher, wenn der Unkundige eine Kathedrale besucht.

Der 30. November ist der Tag des Heiligen Andreas. Namenstage erscheinen als Relikt, dabei sind wir immer noch von solchen Hinterlassenschaften geprägt, ob wir wollen oder nicht. Selbst wenn sich die Europäer ihrer Religion entfremden, so bleibt Europa selbst ein christliches Konzept. Die Wurzeln stecken so tief im Schlammufer von Po und Seine, den kargen Kämmen von Alpen und Pyrenäen, den Waldböden Germaniens und des weiten Ostens, dass eine irgendwie geartete suprastaatliche Entität sie nicht ersetzen kann. Das Herz Europas schlägt nicht in Verfassungen, Wertebekenntnissen oder gar im Moloch Brüssel, sondern dort, wo Kontinuität und Ewigkeit seit zwei Jahrtausenden gepflegt werden; solange noch in einer abgelegenen rumänischen Waldkapelle die Messe zelebriert wird, ist dieses Erbe lebendiger als jeder eurokratische Verwaltungsakt. Selbst wenn keiner diese kleinen Wunder mehr wahrnimmt, so geschehen sie, umgeben uns und machen das aus, was wir Abendländer eigentlich sind. Der Andreastag ist nur ein Anlass, um dessen zu gedenken.

Dem Blinden in der Ewigkeit bleibt einzig am Bahnübergang die Erinnerung an einen Heiligen, wenn er dort jene schrägen Kreuze erblickt, die bis heute seinen Namen tragen: Andreaskreuze. Dabei war der Heilige Andreas nicht irgendwer. Als Apostel Jesu Christi hat er schon deswegen einen besonderen Rang, weil er zusammen mit seinem Bruder Simon Petrus zu den ersten Jüngern gehört. Die beiden Brüder, die dem Herrn folgen, sind dabei bereits ein frühes Bild des Christentums, wie wir es noch heute kennen: während Petrus im lateinisch-katholischen Westen als erster Bischof Roms besonderen Respekt genießt, gilt dasselbe für Andreas als erster Bischof von Byzanz im griechisch-orthodoxen Osten.

Es ist auch besonders diese Welt zwischen Schwarzem Meer, Kleinasien und Griechenland, wo Andreas missioniert, predigt und den Märtyrertod findet. In Patras wird der Apostel der Griechen hingerichtet, bittet jedoch, an ein x-förmiges Kreuz mit diagonalen Balken gebunden zu werden, damit sich dieses von dem Christi unterschied. Jahrhunderte später, als das Römische Reich christlich wird, werden die Reliquien des Heiligen Andreas von Kaiser Constantius II. in einem Triumphzug in die neue Hauptstadt Konstantinopel getragen. In der dortigen Apostelkirche – der eigentlichen Hauptkirche von Byzanz – findet der Heilige für Jahrhunderte seine letzte Ruhestätte. Als Patron des oströmischen Reiches und seiner Kaiser genießt er eine besondere Stellung, die Patriarchen von Konstantinopel sehen sich bis heute als seine Nachfolger an.

Als Schutzheiliger des Byzantinischen Reiches machte Andreas Karriere und ist bis heute immer noch sehr präsent im europäischen Alltag – ob bewusst oder nicht. Über Ostrom fand Andreas seinen Weg nach Russland und Rumänien, wo er heute ebenfalls als Schutzheiliger gilt. Die Russische Flotte hat nach dem Ende der Sowjetunion die alte Marineflagge des Zarenreiches wiederbelebt, und fährt damit neuerlich unter dem Banner von Sankt Andreas. Peter der Große hatte für Russlands Marine ein blaues Kreuz auf weißem Grund entworfen.

Russisches Andreaskreuz

Dreht man die Farben der russischen Marine um, erhält man eine andere europäische Flagge: nämlich die der Schotten. Der Legende nach soll der schottische König Óengus von einer feindlichen Übermacht – je nach Version die Angeln oder Nordmänner – angegriffen worden sein, und am Tag vor der entscheidenden Schlacht um Beistand gebetet haben. Am nächsten Morgen habe sich am Himmel ein Wolkenmuster gezeigt, das dem weißen Andreaskreuz auf blauem Grund geähnelt habe. Nach dem überraschenden Sieg über den Gegner erhob der König den Heiligen Andreas zum Schutzpatron Schottlands. Bereits im 4. Jahrhundert hatte der legendäre Mönch Regulus auf wundersame Weise Teile der Gebeine aus Patras an jenen Ort gebracht, der bis heute seinen Namen trägt: St. Andrews. Das dortige Kloster wurde von Óengus gegründet. Wie viel an den Überlieferungen tatsächlich dran ist, mag dahingestellt sein; bis heute lebt jedoch der Heilige Andreas nicht nur als Schutzpatron der Schotten weiter – in Rom ist die Nationalkirche, Sant‘Andrea degli Scozzesi, nach ihm benannt – sondern auch in Form der schottischen Flagge weiter. Die wird bis heute sowohl von schottischen Patrioten als „Saltire“ verehrt als auch von den Briten als Bestandteil des Union Jack verwendet.

Schottisches Andreaskreuz

Reliquien des Heiligen Andreas fanden ihren Weg jedoch nicht nur nach Schottland. Nach dem Vierten Kreuzzug gelangten die Gebeine des Apostels am Anfang des 13. Jahrhunderts nach Amalfi, wo der Heilige ebenfalls zum Schutzpatron erhoben wurde. Den Kaisern von Byzanz verblieb nur noch der Schädel – der nach dem Untergang des Byzantinischen Reiches in den Westen gebracht wurde. Thomas Palaiologos, welcher der kaiserlichen Dynastie angehörte, veräußerte dieses letzte Thronreliquiar an Papst Pius II. Der Kopf des Heiligen Andreas sollte daraufhin einen der vier Pfeiler der neuen Peterskirche tragen. Unter dem Einfluss der ökumenischen Bemühungen im 20. Jahrhundert erklärten sich Amalfi und der Vatikan bereit, die Reliquien des Heiligen Andras teilweise bzw. ganz an die Kirche von Patras zurückzugeben.

Ein Stück aus dem Leben des Apostels sollte jedoch besondere Karriere machen: nämlich jenes berühmte Märtyrerkreuz, das der Herzog von Burgund beim Vierten Kreuzzug in Konstantinopel ergattert hatte. Auch in Burgund avancierte Andreas zum Schutzpatron der dort herrschenden Dynastie und des ganzen Herzogtums, das zu Beginn des 15. Jahrhunderts zu einer bedeutenden europäischen Großmacht aufstieg. Zwischen Frankreich und dem Reich erstarkte ein neues Mittelreich, das burgundische Kreuz erstrahlte dabei als Symbol einer aufstrebenden Macht. Als der burgundische Herzog Karl der Kühne bei der Schlacht von Nancy den Tod fand, trat seine Tochter Maria von Burgund sein Erbe an und heiratete Maximilian von Habsburg, um Burgund vor dem französischen Zugriff zu bewahren. Das Burgunderkreuz ging danach einen kuriosen Weg, da der gemeinsame Sohn Philipp der Schöne dieses als Zeichen übernahm – und die spanische Infantin Johanna heiratete.

Spanisches Andreaskreuz

Damit wurde das ursprüngliche Burgunderkreuz zu einem spanischen Kreuz, welches drei Jahrhunderte lang das spanische Weltreich und damit den Globus dominierte. Über die Meere fuhren Galeonen und Karacken mit dem Andreaskreuz, auf den Schlachtfeldern Italiens, Frankreichs und der Niederlande war es das erste und das letzte Zeichen, das Freund und Feind zu Gesicht bekamen. Womöglich wurden die Iren von eben jenem Kreuz zu ihrem St. Patrick’s Cross inspiriert, als die katholischen Waffenbrüder von der iberischen Halbinsel diesen gegen die Engländer halfen. Bis heute sind eine ganze Reihe von Flaggen mittel- und südamerikanischer Staaten und Provinzen an dieses burgundische Kreuz angelehnt, da sie in Nachfolge der ehemaligen Kolonialgebiete stehen.

Irisches Andreaskreuz

Das Burgunderkreuz hat auch zu den heutigen spanischen Nationalfarben beigetragen. Der Konflikt mit dem protestantischen England brachte Probleme im Seekrieg mit sich: die Spanier segelten mit einem roten Andreaskreuz auf weiß gegen ein rotes Georgskreuz auf weiß. Die Fahnen waren in der Ferne kaum zu unterscheiden. Ab dem 18. Jahrhundert färbte die spanische Marine daher den weißen Hintergrund goldgelb. Die Farben rot und gelb sind bis heute Grundlage der Nationalflagge Spaniens – auch, wenn das Burgunderkreuz heute nur noch sehr selten Verwendung findet. Ironie der Geschichte: etwa zur gleichen Zeit übernahmen die Briten den Union Jack in ihre Marineflagge, die ab diesem Zeitpunkt auch das schottische Andreaskreuz im oberen linken Eck des Georgskreuzes abbildete. Das Symbol jenes Apostels, den die Griechen den „Ersterwählten“ nennen, hatte damit zeitweise Platz auf den Bannern der beiden größten Marinenationen. Wer jetzt denkt, die Tage des Heiligen Andreas auf See seien gezählt, vergisst, dass Russland immerhin noch die zweitgrößte Flotte der Welt unterhält – und damit das Kreuz des Heiligen in die Weiten des Baltikums, dem Weißen Meer, dem Schwarzen Meer und dem Pazifik trägt.

Womöglich sind dies Anzeichen einer List christlicher Kultur, welche die meisten vergessen haben. Für die frühen Christen war das x-Kreuz ein Geheimzeichen, weil es zugleich den Buchstaben Chi im griechischen Alphabet, und damit den Namen Christi selbst symbolisierte. Die Form ließen an die Sonne, und damit an das Licht der Welt denken, das bis an alle Ecken des Globus reichte. Heute mag das Andreaskreuz eher Symbol dafür sein, dass es noch nicht ganz erloschen ist – und diese Erde immer noch mehr prägt, als man auf den ersten Blick glauben mag.

Anbei: Eine Rede Papst Benedikts XVI. über den Heiligen Andreas.

Marco Fausto Gallina studierte Politik- und Geschichtswissenschaften in Veron, sowie in Bonn. Geboren am Gardasee, sozialisiert im Rheinland, sucht der Historiker das Zeitlose im Zeitgeistigen und findet es nicht nur in der Malerei oder Musik, sondern auch in der traditionellen italienischen Küche. Katholische Identität und europäische Ästhetik hängen für ihn dabei unzertrennlich und unverrückbar miteinander zusammen. Unter den Schwingen des venezianischen Markuslöwen betreibt er seit 2013 sein Diarium, das Löwenblog.

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