Freitag, 29. März 2024

Benedikt XVI. – ein theologischer Aufklärer?

Am Gründonnerstag besichtigte zur Mittagszeit eine kleine Reisegruppe aus Deutschland – ganz normale „Best Ager“ – den Münsteraner Paulusdom. Vermutlich bewunderten die Christenmenschen das Bauwerk. Die Kirche, der geheiligte Ort, lädt ein zu Stille, Schweigen und Staunen, zu andächtiger Scheu, zu Demut und Ehrfurcht. Meine sensiblen Ohren vernahmen launige Bemerkungen. Eine saturiert klingende Männerstimme stöhnte humorig: „Na, habt ihr euch alle auch schon verneigt?“ Mein Großvater lüftete, wenn er an Kirchen vorüberging, noch seinen Hut. Heute, so scheint es, schauen wir lieber in den Spiegel und lächeln uns selbst zu.

Die 68er-Bewegung

Die fröhlichen Kulturchristen von heute treiben Konversation, mit gefälliger, weltgewandter und zuweilen auch vergifteter Ironie. Manche prunken mit kirchenpolitischer Eloquenz und fordern eine zeitgemäße Morallehre. Ein selbstbewusster Christ von Welt gibt sich heute vielleicht geschmeidig, wahlweise empört, zuweilen zeitgeistlich beflissen, reflektiert, beherzt kritisch, vor allem kirchenkritisch. „Ich gehöre ja auch noch irgendwie zu dem Verein“, sagt so mancher, unter Nachbarn, Kollegen und Freunden, als wollte er um Nachsicht für den versäumten Kirchenaustritt bitten: „Und dann erst diese Päpste, vor allem dieser Benedikt mit seinem Gerede über die 1968er-Bewegung!“

Der emeritierte Papst Benedikt XVI. – vielleicht einer der bekanntesten theologischen Aufklärer überhaupt – wagte vor kurzem, seine Überlegungen zur Kirchenkrise am 11. April 2019 vorzulegen. Der Verband deutscher Moraltheologen empörte sich umgehend, eine lesenswerte kritische Analyse hierzu legte Pater Engelbert Recktenwald vor. In der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ erklärte dann Volker Zastrow in dem Kommentar „Der Irrweg eines alten Papstes“ am Ostersonntag: „Er war Papst. Wir sind Welt.“ 

Sind wir „Welt“? Wer gehört zu diesem „wir“? Ich nicht. Wie parfümierter Badeschaum fühlt sich die lässige Postmoderne an, die alles so leichthin billigt, begrüßt und gutheißt. Alles wird neu, auch die Moraltheologie, alles wird gut, und alles wird netter. Oder etwa nicht? Vorgestrige, konservativ, restaurativ oder „vorkonziliar“ gesinnte Geister mögen das anders sehen, wenn sie die Umrisse einer neukatholischen Morallehre nicht als stringente, notwendige Fortentwicklung, sondern als Abwendung von der Lehre der Kirche aller Zeiten und Orte begreifen.

Oder ist heute alles längst lebensweltlich normal, akzeptiert, unkompliziert, alltäglich geworden und – zumindest irgendwie auch als „gefühlt christlich“ anerkannt? Leben wir in einer schönen neuen Welt, farbig illuminiert und digital vernetzt ist, eine Welt, in der so vieles möglich und alles erlaubt zu sein scheint, vom außerehelichen Geschlechtsverkehr über die Pränataldiagnostik bis hin zur „Ehe für alle“? Fehlt nur noch also zu allem, was cool, easy und super zu sein scheint, nur noch der kirchliche Segen?  

Glaube und Postmoderne

Gewiss, der postmoderne Abschied von der Moral hat eine lange Vorgeschichte. Historische Exkurse könnten sicherlich Benedikts Überlegungen noch ergänzen. Bildungsfeindlichkeit wurde auch den Christen und dem byzantinischen Kaiser Justinian vorgeworfen, als er 529 die Schließung der platonischen Akademie verfügt hatte. Bedeutete das eine symbolische Abkehr von der heidnischen Philosophie und den ungetauften Philosophen? Ein Akt wider die menschliche Vernunft? Oder eine Abkehr vom Hellenismus, von verstörenden „Lehrer-Schüler-Verhältnissen“ – eine Art Schlussstrich gegenüber einer Institution, deren Geschichte reich war an Formen päderastischer Praktiken?

Der Altphilologe Erich Bethe schreibt 1906 nicht ohne Sympathie von den heute verstörenden Kulturformen der „dorischen Knabenliebe“. Nur die „Sittenprediger“, etwa später die Christen, hielten die „Knabenliebe“ für eine „widernatürliche Unzucht“. Bethe meint aber verständnisvoll mit Blick auf die Päderastie: „Wäre doch ohne sie die sokratisch-platonische Erotik nicht möglich gewesen.“ In der dorischen Welt sei diese Ausdruck der „unbedingten Hingabe“ gewesen. Er schließt, dass diese „allgemein geübte Lust“ in der Antike verbreitet gewesen sei, als „ein nothwendiges Element des eleganten, griechisch gebildeten Lebens“: „Erst die christliche Kirche, die von jeher gegen dies Heidenlaster besonders geeifert – auch die Gnostische nicht ausgenommen – hat die Päderastie aus der christlichen Gesellschaft verbannt und, da sie es nicht durch geistige Mittel vermochte, im Jahre 342 ihre criminelle Bestrafung durchgesetzt.“[1]

Die Archäologin Carola Reinsberg klärt kenntnisreich über die Familie und Sexualität in der griechischen Antike auf. Sie charakterisiert 1989 die Ehe in der attischen Welt als „Wirtschafts- und Solidargemeinschaft“, die weder eine „gefühlsmäßige Bindung“ noch „Liebe“ vorausgesetzt habe: „Die wesentlichen Bereiche des antiken Sexuallebens waren Ehe, Prostitution und Päderastie. … Das eheliche Geschlechtsleben diente vornehmlich der Hervorbringung von Nachkommen und war nur im günstigsten Fall der körperliche Ausdruck liebevoller Verbundenheit und inniger Partnerschaft.“

Die Prostitution sei als „Regulativ“ selbstverständlich und gesellschaftlich anerkannt gewesen. Sodann legt die Wissenschaftlerin die athenische Lebenswirklichkeit differenziert dar: „Gleichermaßen akzeptiert und gutgeheißen war schließlich die Päderastie, die Knabenliebe, eine Sonderform homosexuellen Verhaltens, die der Homosexualität im heutigen Sinne nicht gleichzusetzen ist. Sie bestand in der Mentorschaft eines erwachsenen Mannes gegenüber einem halbwüchsigen Knaben und beruhte normalerweise auf einem einseitigen Liebesbegehren.“[2] Erst das Christentum war bestrebt, diese Formen von Dekadenz und naturrechtswidrigen Beziehungen eindeutig zu beurteilen, zu bestrafen und über diese aufzuklären.

Hat der nun so vehement kritisierte emeritierte Papst Benedikt XVI. wirklich Unrecht mit seinen Beobachtungen und Analysen, wenn wir an Sophie Dannenbergs deutliche Aussagen aus dem Jahr 2013 denken? Wie konnte zudem in den 1970er-Jahren das sogenannte „Kentler-Experiment“ vom Berliner Jugendamt unterstützt werden? Und warum eigentlich schlägt heute niemand aus der Riege der kirchenpolitischen Wortführer juristische Konsequenzen vor, ob Kleriker oder Weltchrist, etwa die Verlängerung oder Aufhebung der Verjährungsfrist und die Verschärfung des Strafrechts für Kindesmissbrauch?

Ja, die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche sind skandalös und müssen umfassend aufgeklärt werden. Die Feststellung, dass die römisch-katholische Kirche auch eine säkulare, institutionelle Wirklichkeit besitzt – eine Verwaltung, einen „Apparat“ – und damit Ämtern, Universitäten und anderen Behörden vergleichbar ist, ist keine tiefgründige ekklesiologische Einsicht, sondern eine soziologische Trivialität. Diese institutionelle Vertuschungspraxis in der Kirche muss beendet werden, und mit allem Nachdruck muss die Kirche sich von Christus her erneuern und reinigen lassen.

Kirche der Sünder

Die römisch-katholische Kirche besteht aus Sündern. Sie bleibt aber auch eine Stiftung des Herrn: Wäre sie das nicht, dann könnten wir sie sofort schließen. Die Kirche – und damit jeder Einzelne – kann sich richtig nur von Christus her verstehen. Er muss sich auf Ihn ausrichten. Die Kirche, von den Sünden vieler ihrer Mitglieder in Geschichte und Gegenwart beschmutzt und versehrt, ist trotzdem in, mit und durch Christus die größte Hoffnungsgemeinschaft dieser Welt – und seit ihren Anfängen auch eine Aufklärungsbewegung.

Benedikts Beitrag lässt sich als ein wichtiges, wertvolles und aufklärendes Zeugnis für den unverfälschten Glauben der Kirche und für die das menschliche Leben ganz und gar schützende Morallehre der Kirche verstehen. Mir scheint, er hat einfach für die Kirche von gestern, heute und morgen gesprochen, für die Kirche, die dazu aufruft, den Sünder, nicht aber die Sünde zu lieben.

Die Auferstehung Christi ist unsere Hoffnung

Erinnert sei an den unvergessenen Kardinal Joachim Meisner und sein Wort: „An Gottes Segen ist alles gelegen.“ Ja, auf Ihn, der Mensch geworden ist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten hat unter Pontius Pilatus, am Kreuz gestorben ist, begraben wurde und auferstanden ist von den Toten, kommt alles an, von Ihm hängt alles ab, und Er hat auch in allem das letzte Wort – und nicht wir. Darum möchte ich weiterhin einfach zum „Credo“ der Kirche stehen und an die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche glauben. Ich bin auch gelassen, denn der Herr ist nämlich auferstanden, Er ist wahrhaft auferstanden.

Ja, vielleicht leben wir alle heute wirklich in einer postmodernen, möglicherweise sogar in einer postmoralischen Gesellschaft. Aber trüge ich einen Hut, so würde ich ihn vor jeder katholischen Kirche, an der ich vorüberginge, lüften. So bleibe ich einfach weiterhin gern römisch-katholisch. Sie vielleicht auch?  

_______________________

[1] Bethe, Erich: Die Dorische Knabenliebe. Ihre Ethik und ihre Idee (1906), in: Dynes, Wayne R./Donaldson, Stephen (ed.): Homosexuality in the Ancient World, Garland Publishing, Inc.: New York – London 1992, 10–47, 18 u. 47. – Bethes Reflexionen werden auch 1980 bestätigt, vgl. Bremmer, Jan: An Indo-European Rite: Paederasty (1980), in: Dynes/Donaldson, a. a. O., 49–68, insb. 51, dort weist er darauf hin, dass das Christentum diese Praxis als Verbrechen angesehen und unterdrückt habe. Bestätigt wird dies auch von Paul Cartledge, The Politics of Spartan Pederasty (1981), in: Dynes/Donaldson, a. a. O., 75–94, insb. 76 ff. – John Addington Symonds erklärte: „What the Greeks called paiderastia, or boy-love, was phenomenon of one oft the most brilliant periods of human culture, in one of the most highly organized and nobly active nations. It is the feature by which Greek social life is most sharply distinguished from that of any other people approaching the Hellenes in moral or mental distinction.“ Zitiert nach: Percy, William A.: On Sexual Revolution 600 B.C. – 400 A.D. The Origins of Institutionalized Pederasty in Greece (1990), in: Dynes/Donaldson, a. a. O., 375–380, hier 379.

[2] Reinsberg, Carola: Ehe, Hetärentum und Knabenliebe im antiken Griechenland. Verlag C. H. Beck: München 1989, 8.

1 Kommentar

  1. Was die Kritik an den Äusserungen des hochverehrten Papstes Benedikt XVI. bemängelte, war ja (anders als in diesem fundierten und weit ausholenden Beitrag) seine Zuschreibung der Missbrauchs-Handlungen an gesellschaftliche und innerkirchliche Entwicklungen (grob) der letzten 50 Jahre.
    .
    Er hätte doch wissen müssen, dass es beispielsweise bei den „Regensburger Domspatzen“ (immerhin war sein Bruder dort ja musikalischer Leiter) lange *vor* dieser Zeit (und als die Moraltheologie — um darauf besonders einzugehen — noch nach Hieronymus Noldin gelehrt wurde) Fälle sexuellen Missbrauchs mehr als genug gab.

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