Dienstag, 19. März 2024

Der Antimodernismus von Pius X.

Leo XIII. starb 1903. Als aussichtsreichster Nachfolger Leos XIII. im Papstamt galt sein bisheriger Staatssekretär Rampolla. Er war ebenfalls für pragmatische und diplomatische Politik bekannt – allerdings auch als frankophil. Der österreichische Kaiser drohte im Falle von Rampollas Wahl mit seinem Veto gegen die Papstwahl, Exklusive genannt. Schließlich wurde der Patriarch von Venedig zum Papst gewählt: Giuseppe Sarto.

Das Motto Pius’ X. war instaurare omnia in Christo – alles in Christus erneuern. Vom Stil her regierte Pius X. anderes als Leo XIII. Raffaele Merry del Val, der unter Leo XIII. in den Dienst der päpstlichen Kurie trat, wurde 1903 von Pius X. zu seinem Staatssekretär ernannt. Er wurde schnell die rechte Hand des Papstes. Merry del Val bildete zusammen mit Gaetano De Lai, dem Schöpfer der Kurienreform, und dem Kapuziner und Beichtvater des Papstes, José de Calasanz Félix Santiago Vives y Tutó, die mächtige antimodernistische Trias des Pontifikats. Diese Trias war verantwortlich für die antimodernistisch-integralistischen Maßnahmen unter Pius X.

Pius X. verfolgte einen intransigenten Kurs gegen modernistische Strömungen. Es gab Versuche der Erneuerung und der Restauration zur selben Zeit. Während es Reformen im Bereich der Liturgie, der Kurie und der Kanonisation des CIC gab, war das Handeln in Bezug auf den Modernismus auf Bewahrung und Tradition ausgerichtet.

Was wurde als Modernismus verworfen?

Als kuriale Behörde war die Römische und Universale Inquisition zuständig für Fragen des rechten Glaubens. 1908 wurde sie in Heiliges Offizium umbenannt. Als erste antimodernistische Maßnahme unter dem Pontifikat Pius’ X. galt das Dekret der Inquisition Lamentabili vom 3. Juli 1907. Es verwarf 65 Lehrmeinungen und stellte Exegese, besonders in historisch-kritischer Methode unter lehramtliche Kontrolle. In diesem Dekret wurde die Lehre von der Irrtumslosigkeit der Bibel vertreten und die evolutionäre Sichtweise über Glaube und Kirche als Irrtümer dargestellt.

Es wurden klare traditionelle Positionen festgelegt. Unter anderem wurde es als Irrtum angesehen, dass die Lehrsätze der Kirche, die sie als geoffenbart anführte, keine vom Himmel gefallenen Wahrheiten seien. Das Dekret Lamentabili war aus dem lehramtlichen Umgang mit dem französischen Exegeten Alfred Loisy entstanden. Schon 1893, unter dem Pontifikat Leos XIII., waren seine Werke Gegenstand der Indexkongregation, die der Inquisition bzw. dem Heiligen Offizium bis 1917 untergeordnet war. Zum Dekret Lamentabili kam es, als der Pariser Erzbischof Kardinal Richard Pius X. 1903 eine Liste zusammenfassender Sätze über die Werke Loisys überreichte, an deren Fertigstellung auch Kardinal Billot, ein Gegner Loisys, beteiligt war. Nach der Indizierung der Werke Loisys 1903 unter dem Pontifikat Pius’ X. sollte nun eine umfassende Liste von Irrtümern in den Werken Loisys erstellt werden. Die Sätze sollten nur sinngemäß formuliert werden. Mit ihrer Erstellung wurden Pie de Langogne OFMCap, der der engste Mitarbeiter des Kapuzinerkardinals Vives y Tutós war, und der Jesuit Domenico Palmieri (1829-1909) beauftragt.

Palmieri, der besonders hart gegen Loisy vorgehen wollte, musste unter Leo XIII. Rom verlassen, da er nicht dessen Thomismus teilte. Er konnte nun den Fall Loisy zu seiner Rehabilitierung nutzen. Die Grundschrift des Dekrets Lamentabili beruhte aber auf dem Elenchus von Pie de Langogne. Bekannt wurden Loisys neuere Schriften 1901 in der Inquisition, da der Redemptorist Willem van Rossum (1854-1932) ihn bei der Kurie anzeigte. Lamentabili sollte ein verurteilendes Dokument in der Art des Syllabus errorum Pius’ IX. werden. Da es aber nicht vom Papst selbst kam, konnte es keine dogmatischen Festlegungen definieren. Merry del Val verlangte im Mai 1906 auf Geheiß des Papstes eine Beschleunigung des Prozesses. Es wurde letztlich kein umfassender antimodernistischer Gesamtsyllabus geschaffen. „Loisy ist der alleinige Mittler anderen modernistischen Gedankenguts, sofern es in ‚Lamentabili‘ vorkommt. Das Ziel des Dekrets war es vor allem, Loisy zu stoppen und eine bestimmte Diskussion in Frankreich zu unterbinden.“ Damit war Lamentabili nicht der umfassende Syllabus gegen den Modernismus, sondern eher eine Notmaßnahme gegen Loisy.

Pius X. plante eine neue Enzyklika gegen den Modernismus als Sammelbecken aller Häresien. Er sah es als seine päpstliche Hirtenfürsorge an, sich des Themas selbst anzunehmen, und nannte seine Enzyklika „Pascendi dominici gregis“. Die metaphorische Ausdrucksweise von Hirte und Herde lässt unweigerlich an eine Schafherde erinnern, die zum Gedeihen und Überleben eines Schafhirten bedarf. Das biblische Motiv von Jesus als gutem Hirten und Jesu biblische Beauftragung an Petrus „Weide meine Schafe“ liegen hier zugrunde.

Joseph Lémius OMI (1860-1923) war der Verfasser des lehramtlichen Teils. Die scholastische Methode galt als verpflichtend. Ideengeber und Autor des praktischen Teils soll der Lieblingskardinal Pius’ X., Vives y Tutó, gewesen sein. Nachdem er in Lateinamerika und Frankreich als Mitglied des Kapuzinerordens Vertreibungen hatte erleben müssen, wurde er entsprechend antiliberal geprägt. Er verfasste auch die 35 Seiten umfassende italienische Vorlage für den zweiten Teil der Enzyklika. Kardinal Louis Billot SJ redigierte den praktischen Teil.

Mit martialischen Einleitungsworten, in denen Pius X. von Feinden des Kreuzes Christi sprach, die die Kirche zerstören wollten, begann der Papst seine Enzyklika. Den Hauptvorwurf gegen die Anhänger des Modernismus, die in der Enzyklika Pascendi als „modernistae“ (Modernisten) bezeichnet wurden, sah Pius X. in der so genannten Lehre vom Agnostizismus und Immanentismus, nach der die menschliche Vernunft von den Phänomenen eingeschlossen sei und Gott nicht mehr erkennen könne. Somit war dann, so schlussfolgerte Pius X. in seiner Argumentation, Gott kein Gegenstand der Wissenschaft mehr. Dies sei nun eine Lawine für weitere Irrtürmer wie die Annahme eines atheistischen Geschichtsverlaufs, die Ablehnung der Erkenntnis der allgemeinen äußeren Offenbarung und die Reduktion des Glaubens auf die Ebene des Gefühls. Der Modernismus führte laut Pius X. zur Zerstörung der katholischen Kirche und war damit eine Häresie. Die Ursachen des Modernismus sah er in Neugier und Stolz.

Gegen den Modernismus wurden in der Enzyklika einige Maßnahmen genannt. Die Bischöfe sollten streng diejenigen prüfen, die die Priesterweihe empfangen wollten. Vor allem Neuerungssucht sollte eingedämmt werden, da Gott Hochmütige und Widerspenstige hasse. Das Recht zur Promotion sollte nur denen ermöglicht werden, die festgelegte scholastische Philosophie studiert hatten. Bei Publikationen sollte streng darauf geachtet werden, dass keine modernistischen Bücher die Druckerlaubnis erhielten. Weiterhin forderte Pius X., in jedem Bistum einen diözesanen Überwachungsrat einzurichten, der nach dem Vorbild des bereits bestehenden umbrischen diözesanen Rates Modernismus aufspürte. Es ging darum, Klerus und Jugend vor diesen Lehren zu schützen. Weiterhin dürften, wie schon Leo XIII. ermahnte, Redeweisen nicht zugelassen werden, die die Frömmigkeit der Glaubenden angriffen und verspotteten.

Modernismus war laut der Enzyklika Pascendi nicht bloß eine Abweichung in der Methode der Theologie – etwa von der damals gängigen Neuscholastik –, sondern wurde darin zur Glaubensfrage stilisiert: Der Modernist wurde zum Häretiker und Schismatiker. Damit war im Falle eines Modernismusvorwurfs mit der Exkommunikation zu rechnen.

Neben Disziplinierungsmaßnahmen wie in der Enzyklika Praestantia und der Betonung des verpflichtenden Charakters der bisherigen und sogar der zukünftigen Entscheidungen der Bibelkommission, die 1909 zu dem Entschluss kam, dass die Genesis Erzählungen wörtlich und historisch zu verstehen sind, wie etwa „die Bildung der ersten Frau aus dem ersten Menschen und die Übertretung des göttlichen Gebotes aufgrund der Einflüsterung des Teufels“, wurde 1910 der Höhepunkt mit dem sogenannten Antimodernisteneid erreicht.

Im Motu proprio Sacrorum Antistitum vom 1. September 1910 sollte in der Form eines Glaubensbekenntnisses die natürliche Gotteserkenntnis, die über die Beweisbarkeitsthese des Ersten Vatikanischen Konzils hinausging, bekannt werden. Weiterhin sollte die Faktizität von Wundern anerkannt werden und an die unmittelbare Einsetzung von Kirche und Hierarchie durch Jesus Christus geglaubt werden. Die Zustimmung des Verstandes, nicht bloß die psychologisch-gefühlsmäßige, war nach Sacrorum Antistitum ein zentrales Moment des Glaubensaktes.

Der Text des Eides stammte von den Loisy-Gegnern Billot und van Rossum. Beide forderten bei Eidverweigerung die Exkommunikation. Die Kardinäle des Sanctum Offizium sahen im Eid allerdings nur eine Gehorsamserklärung, kein Glaubensbekenntnis, weshalb Kleriker, die den Eid verweigerten, nur suspendiert wurden. Es zeigte sich hier wohl eine Uneinigkeit zwischen dem Sekretär des Hl. Offiziums, Rampolla, und den Konsultatoren Billot und van Rossum. Diese mag auch den unterschiedlichen theologischen Prägungen geschuldet gewesen sein. Rampolla war Alumnus des Apollinare, Billot Dogmatiker an der Gregoriana.

Der Eid wollte eine „Kontrollmaßnahme für den theologischen Lehrbetrieb“ darstellen; der Schwur sollte garantieren, dass die Professoren diese Lehre auch übernahmen. Die Eidesformel sollte vor allem auf die verurteilten Ansichten der Enzyklika Pascendi, nämlich Immanenz und Agnostizismus, antworten. Billot verstand Immanenz als die Verneinung der gesamten übernatürlichen Ordnung, die zur Zerstörung aller Grundlagen des christlichen Glaubens führten.

Widerstand und Verteidigung aus Deutschland

An den deutschen Hochschulen war der Eid nicht durchsetzbar, sodass Pius X. schon im Dezember 1910 an Kardinal Fischer, den Erzbischof von Köln, schrieb, „daß zu der von uns vorgeschriebenen Eidesformel durch jenes Motu Proprio nicht diejenigen Geistlichen angehalten werden, die an staatlichen Hochschulen Theologie lehren.“ Die katholisch-theologische Fakultät von Münster lehnte in einer Erklärung vom 31. Januar 1911, der eine Initiative des Moraltheologen Mausbach vorausgegangen war, die Eidesleistung ab.

An Werken gegen den Modernismus mangelte es zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht. Jedoch war grundsätzlich niemand sicher vor der Anschuldigung, ein Modernist zu sein. So wurde beispielsweise der Kirchenhistoriker Angelo Roncalli, der spätere Papst Johannes XXIII., 1914 von Kardinal De Lai ermahnt, exegetisch vorsichtiger zu sein. Weiterhin erhielt Karl Adam 1911 Schwierigkeiten mit dem Münchener Ordinariat, als er eine menschliche Entwicklung Jesu lehrte.

Ein bedeutendes apologetisches Werk zur Verteidigung des Antimodernismus war Mausbachs kurze apologetische Abhandlung „Der Eid wider den Modernismus und die theologische Wissenschaft“. In ihr machte er klar, warum er die antimodernistischen Maßnahmen der Kirche für richtig hielt. Um deren Sinn und Zweck zu verstehen, sei es notwendig, „die Kampfstellung der Kirche in der Abwehr des Modernismus und vor allem das Wesen des letzteren klar zu erfassen und richtig zu würdigen.“ Zum Modernismus gehöre „die Leugnung einer absoluten, allgemeingültigen Wahrheit auf dem Gebiete der natürlichen wie der übernatürlichen Religion“. Im Weiteren kritisierte er die Erkenntnistheorie Kants und die modernen Philosophien, die es unmöglich machten, „die objektive Ordnung und Gesetzlichkeit der Welt, das Dasein der Seele und des geistigen Gottes zu erkennen.“

In einem weiteren Kapitel entgegnete Mausbach dem Vorwurf Alois Wurms, dass der Eingriff des Glaubensstandpunktes in die historische Forschung, anstatt ausschließlich auf die Erhebung und Darstellung der Tatbestände zu achten, dazu führt, dass die biblisch-historischen Fächer wie die Dogmen- und Kirchengeschichte nicht mehr historisch-wissenschaftliche Disziplinen sind, sondern lediglich als Anhängsel zur Dogmatik aufzufassen sind. Mausbauch sah im Antimodernisteneid jedoch keine Störung der sachgemäßen Quellenbeurteilung und -deutung, denn letztlich seien dann selbst die Päpste nicht sicher vor einer „alles nivellierenden Tendenzgeschichtsschreibung.“

Schließlich stellte Mausbach die Frage, ob der Modernismus eine Methode gebilligt habe, nach der die geschichtliche Theologie zu Ergebnissen kommen sollte, die dem Dogma widersprechen. Mit Blick auf die Enzyklika Pascendi bejaht Mausbach diese Frage. Die Ursache des Widerspruchs liege in der Beschränkung auf das rein Empirische und Innerweltliche, die eine göttliche Macht ausschließe. Dadurch solle die Gefahr und Möglichkeit des Widerspruchs zwischen Glauben und Vernunft beseitigt werden. Es sei daher nicht möglich, Geschichte als Glaubens- und Gottesgeschichte zu verstehen. Mausbach machte damit auf die Kernvorwürfe der antimodernistischen Offensive deutlich, die darin gesehen wurden, dass der Wahrheitsanspruch der Kirche von einem historisch-faktischen zu einem subjektiven-emotionalem wurde und dann folglich kein Gegenstand der Wissenschaft mehr war. Zur Rechtfertigung machte Mausbach in Bezug auf die Enzyklika Pascendi folgenden Hauptvorwurf der Kirche gegen kirchlich unerlaubte Methoden deutlich:

Daß das Ewige und Göttliche irgendwo sicher und gebietend in die Geschichte eintritt, diese Grundanschauung aller Offenbarungs- und Christusreligion wird hier (Im MODERNISMUS) völlig fallen gelassen. Der Glaube, der an solchen Tatsachen festhält, ist eine dem religiösen Bedürfnis und Gefühl entspringende Verklärung der Wirklichkeit, die neben der wissenschaftlichen Betrachtungsweise hergeht.“ – Mausbauch über den Modernismus

Abschließend machte Mausbach auf den Unterschied zwischen katholischer Theologie und den anderen Lehrfächern aufmerksam. Dieser liege nicht in der Stoffwelt, da jedes Fachgebiet an die feststehende Welt von Tatsachen oder Erscheinungen gebunden sei, jedoch gebe es darin einen Unterschied, wie sich der Lehrer zum Inhalt seiner Wissenschaft stelle. Er sei verpflichtet, „die von der Offenbarung und dem kirchlichen Lehramte verkündete Wahrheit im Denken und Lehren festzuhalten, seine wissenschaftliche Arbeit mit dieser Glaubensgrundlage in Einklang zu erhalten.“

In einer Rede im preußischen Abgeordnetenhaus Rede vom 14. Januar 1914 machte der Nationalliberale Robert Friedberg darauf aufmerksam, dass es sich für ihn hierbei „nicht um einen Kulturkampf [handelt].“ Als Theologieprofessor sei man „Lehrer und Gelehrter […] und die Freiheit der Lehre ist ihm garantiert.“ Der preußische Kultusminister August Trott zu Solz äußerte sich am selben Tag in seiner Rede im Abgeordnetenhaus grundsätzlich zu dem Wert der katholischen Fakultäten für den Staat, der darin liege, dass „wenn sie auch unsere Universitäten beziehen, dort mit anderen Dingen und mit anderen Menschen in Berührung kommen.“ Es liege weiterhin im Staatsinteresse, wenn auch die Theologieprofessoren sich mit den Dozenten anderer Fächer an der Universität austauschen können.

Der Antimodernismus sollte in Deutschland von vornherein untergraben werden. Die katholischen Priester-Professoren sollten sich als Minderheit der protestantische Mehrheit anpassen. Heute sehen wir, wohin das geführt hat.

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