Dienstag, 16. April 2024

Gaudium et Spes: Tritt ein „neuer Humanismus“ an die Stelle der Erlösung Christi?

Beginnen wir mit der Pastoralkonstitution Gaudium et spes, die von ihrer Gesamtkonzeption, aber auch von einzelnen Stellen aus betrachtet besonders viele Anstöße bietet. So heißt es in GS 55[1]: „Immer größer wird die Zahl der Männer und Frauen jeder gesellschaftlichen Gruppe und Nation, die sich dessen bewußt sind, selbst Gestalter und Schöpfer der Kultur ihrer Gemeinschaft zu sein. Immer mehr wächst in der ganzen Welt der Sinn für Autonomie (vgl. auch GS 36,1) und zugleich für Verantwortlichkeit, was ohne Zweifel[2] für die geistige und sittliche Reifung der Menschheit von größter Bedeutung ist. Diese tritt noch deutlicher in Erscheinung, wenn wir uns die Einswerdung der Welt und die uns auferlegte Aufgabe vor Augen stellen, eine bessere Welt in Wahrheit und Gerechtigkeit aufzubauen. So sind wir Zeugen der Geburt eines neuen Humanismus, in dem der Mensch sich vor allem von der Verantwortung für seine Brüder und die Geschichte her versteht.“

Was die Autonomie des Gewissens angeht, so hat der regierende Papst Franziskus hierzu Erschütterndes gesagt: „Jeder von uns hat seine eigene Sicht des Guten und auch des Bösen. Wir müssen den Menschen dazu drängen, sich in die Richtung zu bewegen, die er für das Gute hält.’ ‚Das haben Sie, Heiliger Vater, bereits in dem Brief geschrieben, den Sie an mich gerichtet haben. Das Gewissen ist autonom, haben Sie gesagt, und jeder muß seinem Gewissen gehorchen. Ich denke, daß dies einer der mutigsten Passagen ist, die je ein Papst gesagt hat.’ ‚Und hier wiederhole ich das. Jeder hat seine eigene Vorstellung von Gut und Böse und muß sich dafür entscheiden, dem Guten zu folgen und das Böse zu bekämpfen, sowie er es versteht. Das würde ausreichen, um die Welt zu verbessern.“ (Gespräch mit dem atheistischen Journalisten Eugenio Scalfari. Es erschien in der italienischen Zeitung „La Repubblica“ am 1. Oktober 2013 unter dem Titel „Il Papa: così cambierò la Chiesa“ – „Der Papst: So werde ich die Kirche verändern“. Einen Tag später wurde der Text auch vom „Osservatore Romano“ übernommen)

Nun einige Bemerkungen zur in GS 55 festgestellten „Einswerdung der Welt“. Ich verzichte hier darauf, die vielen Zeugnisse aus letzter Zeit für den Bau einer „ One World“ mit einer Weltregierung anzuführen; einiges finden Sie in einem Aufsatz von mir  (Der christliche Glaube und die „neue Weltordnung“ des Klaus Schwab, Theologisches 51,7-8/2021, 319-339). Treffend haben auf diese Zusammenhänge im Zuge der Coronakrise und des Verbots, öffentliche Messe, zu feiern zwölf Bischöfe wie Viganò, Athanasius Schneider, Laun, die Kardinäle Georg Ludwig Müller und der chinesische Kardinal Zen in einer internationalen Unterschriftenaktion hingewiesen, die von viel Mut und Einsicht der Unterzeichner zeugte (siehe Heinz-Lothar Barth – Josef Heinskill, Die Coronakrise – Überlegungen aus naturwissenschaftlicher und theologischer Sicht, Wil/Schweiz 2021, 38-45).

Genau diesem Geist entsprechend, der so weit vom traditionellen Wesen der Kirche und ihren Aufgaben entfernt ist, biederte sich Papst Paul VI. in seiner lateinischen Predigt bei der Messe zum Abschluß des Konzils regelrecht den Ungläubigen an, indem er ihnen zurief: „Dieses Lob spendet wenigstens dem Konzil, ihr, die ihr in diesem unserem Zeitalter den Kult der Menschlichkeit pflegt und die Wahr­heiten, die die Natur der Dinge übersteigen, zurückweist: aner­kennt unsere neuartige Bemühung um die Menschlichkeit: auch wir, ja wir mehr noch als die anderen, haben den Kult des Menschen.“ Die Homilie wurde gehalten am 7. Dezember 1965.Im lateinischen Original heißt der Text (nach AAS 58/1966, 56): „Hanc saltem laudem Concilio tribuite, vos, nostra hac aetate cultores humanitatis, qui veritates rerum naturam transcendentes renuitis, iidemque novum nostrum humanitatis studium agnoscite: nam nos etiam, immo nos prae ceteris, hominis sumus cultores.“ „Hominis sumus cultores“ mit „wir haben den Kult des Menschen“ wiederzugeben erscheint angemessen, da der Begriff „cultor“ meist im religiösen Sinne des „Verehrers“ bzw. „Anbeters“ Gottes (oder einer Gottheit im paganen Bereich) verwendet wird. Auch der Kontext legt ein solches Verständnis nahe: Denn die christlichen „hominis cultores“ werden ja in Parallele zu den atheistischen bzw. agnostischen Humanisten („cultores humanitatis“) gesetzt, die in der Tat den Gottes- durch den Menschheitskult ersetzt haben. Entsprechend hieß es auch im Französi­schen: „Nous aussi, Nous plus que quicon­que nous avons le culte de l‘ homme.“ (Yves Chiron, Paul VI – Le pape écartelé, Paris 1993, 249).

Diese Tendenz zur Horizontalisierung und Ver­welt­li­chung der katho­lischen Religion steigerte Papst Paul VI. dann noch im Jahre 1971, als er mit Anklängen an das „Gloria in excelsis Deo“ in wenig geschmackvoller Weise den Menschen und seine wissenschaftlich-technischen Leistungen angesichts der Mondlandung amerikanischer Astronauten hymnisch pries: „Ehre dem Menschen, dem Denken, der Wissenschaft, der Technik, der Arbeit, der menschlichen Kühn­heit … Ehre dem Menschen, dem König der Erde, und nunmehr Fürsten der Himmel.“ (« Honneur à l’homme, roi de la terre, et maintenant prince des cieux »). Das italieni­sche Original dieser päpstlichen Ansprache zum „Angelus“ am Sonntag, dem 7. Febru­ar 1971, war mir nicht zugänglich, ich stütze mich auf die französische Übersetzung in der (wissenschaftlich zitierfä­higen) Reihe „La documentation catholique“, Nr. 1580 vom 21. Februar 1971, 156. Es sei nicht verschwiegen, daß Papst Paul VI. im folgenden durch die Wieder­gabe des Psalmverses 18,2 („Die Himmel erzählen von der Herrlichkeit Gottes, und das Firmament verkündet das Werk seiner Hände“) ein gewisses Gegengewicht gegen die vorangegangenen anstößigen Lobsprüche setzte, doch ist die hier vorgetra­ge­ne Verherrlichung des Menschen selbst in Anbetracht eines solchen Korrektivs schwer erträglich.

Übrigens war das nicht das erste Mal, daß der Montini-Papst einen derartigen Hymnus auf den Menschen und seinen technischen Fortschritt anstimmte. Bereits zum Angelus am 13. Juli 1969 hatte er sich ebenso mit Blick auf die Mondlandung ähnlich geäußert: „Der Mensch offenbart sich uns als riesengroß. Er offenbart sich uns als göttlich, nicht in sich, aber in seinem Urgrund und in seiner Bestimmung. Ehre dem Menschen, Ehre seiner Würde, seinem Geist, seinem Leben!“ – „L’uomo ci si rivela gigante. Ci si rivela divino, non in sé, ma nel suo principio e nel suo destino. Onore all’ uomo, alla sua dignità, al suo spirito, alla sua vita.“[3]

Um der wissenschaftlichen Redlichkeit willen sei nicht ver­schwie­gen, daß der Papst an anderen Stellen auch die vertikale Dimension der Kirche erwähnt, freilich gleichsam erst als zweitrangige Aufgabe: „Ec­clesia ad hominem et ad mundum se in­clinat, sed simul etiam ad Dei regnum extolli­tur“ (a. O. 58) – „Nonne denique nos Concilium docet, ratione simplici, nova, sollemni amare hominem, ut amemus Deum?“ (a. O. 59) „Die Kirche neigt sich der Welt zu, aber zugleich erhebt sie sich auch zum Reich Gottes.“ „Lehrt uns nicht schließlich das Konzil, auf einfache, neue und feierliche Weise, den Menschen zu lieben, damit wir Gott lieben?“ Stimmt hier im zweiten Satz die Reihenfolge? Resultiert die Nächstenliebe nicht aus der Gottesliebe und nicht umgekehrt? Also sind auch diese Sätze nicht unbedenk­lich, weil sie einer Verweltli­chung der Kirche Vorschub leisten können (nicht unbedingt müssen, weil sie auch in einem katholischen Sinn interpretierbar sind), wie sie ja in der Tat in den letzten Jahr­zehnten in einem solchen Maße virulent geworden ist, daß sie die Bot­schaft Christi zu ersticken droht. Und in dieser Unbestimmtheit liegt gerade ein Prinzip mancher Texte des II. Vatikanums, daß man sie im traditionellen, aber auch in einem progressiven Sinne deuten kann.

Immerhin nennt auch das II. Vatikanum in Gaudium et spes Nr. 17 die Notwendigkeit für einen wahrhaft freien Menschen, „sich aus aller Knechtschaft der Leidenschaften zu befreien“ (DH 4317) – ein Aspekt, der von der Kirche immer wieder betont worden ist, so z. B. beim hl. Thomas in S.th. II-II 153,5, vgl. 53,6. Florian Baab hat aber recht, daß diese Konzeption hinter der eines Franz Hettinger („Apologie des Christentums“) zurücksteht, der mit der traditionellen Theologie die Notwendigkeit der göttlichen Gnade als Voraussetzung für die menschliche mitwirkende Anstrengung hervorhob, die hier in GS 17 arg zu kurz kommt. Baabs Fazit lautet: „Hat daher die Generation der Konzilstheologen der Autonomie des Menschen, wenn es um die heikle Frage der Selbstkontrolle geht, womöglich etwas mehr zugetraut, als sie leisten kann?“ („Woher der religiöse Zweifel?“ Zur Krisendiagnostik deutschsprachiger Apologeten im Umfeld des Ersten Vatikanums, in: Julia Knop/Michael Seewald [Hrsg.], Das Erste Vatikanische Konzil. Eine Zwischenbilanz 150 Jahre danach, Darmstadt 2019, 11-27, Zitat 19). Damit hängt natürlich auch eine Überbetonung der Freiheit, einer letztlich falschen Freiheit, zusammen.

Wenn man in GS 55 den Sinn des modernen Menschen für „Autonomie“ preist (obgleich der nicht mitzitierte Kontext die Behauptung ein wenig entschärft), so möge man sich in Rom nicht wundern, wenn Vertreter der sog. „Autonomen Moral“ wie Auer (Alfons), Greinacher, (der spätere) Häring und viele andere in ihren vom Lehramt abweichenden Meinungen sich immer wieder durch das II. Vatikanum gerechtfertigt gefühlt haben und überhaupt nicht daran dachten, die päpstliche Morallehre anzunehmen, wie sie z. B. in den Enzykliken Johannes Pauls II. „Veritatis splendor“ und „Evangelium vitae“ vorgelegt wurde. Einen guten Überblick über die Bestrebungen jener zerstörerischen modernen Ansätze findet man bei Theo G. Belmans, Die bitteren Früchte der autonomen Moral, Theologisches 23,6/1993, 202-210. Von großem Wert für eine sittliche Orientie­rung des Christen in unseren Tagen ist übrigens das dreibändige Werk „Anruf und Antwort“ (Vallendar – Schönstatt 1993) von Anselm Günthör, das auch den bedrohlichen Tendenzen der zeitgenössischen (Un-)Moraltheologie mit wissenschaftlichen Argumenten begegnet, wie sie uns die Hl. Schrift und die Tradition unserer Kirche bereitstellen. 

Wenn nun in den oben zitierten Aussagen vom wachsenden „Sinn für Verantwortlichkeit“ unter den Menschen, von ihrer „geistigen und sittlichen Reifung“, ja von der „Geburt eines neuen Humanismus“ die Rede ist, so fragt man sich, welche Welt die für jenen Text Verantwortlichen vor Augen gehabt haben! Um mich auf den Bereich internationaler Politik zu beschränken, erinnere man sich nur daran, welche und wie viele Kriege mit den Folgen millionenfacher Tötung und Vertreibung[4] im 20. Jahrhundert geführt wurden – sowohl vor als auch während und immer wieder nach dem Konzil! Papst Paul VI. stellte jedenfalls interessanterweise in seiner Ansprache zur letzten Öffentlichen Konzilssitzung, bei der u. a. gerade „Gaudium et spes“ approbiert und promulgiert wurde, eine völlig andere Diagnose der Zeitverhältnisse. So sagte er über jene damals zu Ende gehende Generalsynode der Kirche: „Sie hat in einer Zeit stattgefunden, in der, wie allen klar ist (!), die Menschen mehr auf die Beherrschung der Welt als auf das Reich Gottes ausgerichtet sind; wo die Gottvergessenheit zur Gewohnheit geworden ist, so als ob sie gerade von den Fortschritten der sich weiterentwickelnden Wissenschaften nahegelegt würde; wo das vornehmliche Handeln der menschlichen Person, die ein klareres Bewußtsein von sich selbst und von ihrer Freiheit gewonnen hat, dahin strebt, für sich absolute Freiheit in Anspruch zu nehmen, die sich keinem Gesetz verpflichtet weiß, das die Ordnung des natürlichen Bereichs überschreitet; wo die Lehren des Laizismus scheinbar rechtmäßig aus dem modernen Fortschritt der Wissenschaften hervorgehen und dieselben als Norm von höchster Weisheit betrachtet werden, nach welcher die menschliche Gesellschaft einzurichten sei; wo außerdem die menschliche Vernunft so weit geht, daß sie Dinge ausspricht, die völlig sinnlos sind und jede Hoffnung zerstören; wo schlußendlich die bedeutendsten Religionen der ethnischen Gemeinschaften Verwirrungen und Veränderungen ausgesetzt sind, die sie nie zuvor gekannt haben.“[5] 

Eine ungeheuer realistische Einschätzung des Zeitgeistes, der sich seitdem ja im wesentlichen noch erheblich verschlimmert hat! Aber wieso konnte man dann dieser Welt so positiv wie in „Gaudium et spes“ begegnen, jenem Dokument, zu dem sich derselbe Papst im Fortgang seiner Ansprache durchaus mit Nachdruck bekannte? Liegt hier nicht eine fast tragische Zerrissenheit des Montini-Papstes vor, die auch sonst zu beobachten war und die teilweise so weit ging, daß einfache und wenig aufgeklärte Geister das Rätsel jenes Pontifikates mit der absurden These vom bösen Doppelgänger des an sich guten Papstes lösen wollten?

Hatte nicht der Berliner Bischof Alfred Bengsch recht, wenn er über „Gaudium et spes“ urteilte: „Der Text strebt den Dialog der Kirche mit der Welt an und gibt offen zu erkennen, daß sie diesen Dialog mit Wohlwollen, ja sogar mit einiger Freude beginnen will. Diese Absicht aber führt – nach meinem demütigen Urteil – zu einem solchen Optimismus bei der Beurteilung der Phänomene dieser Welt, der weder durch die Erfahrung noch aus der Heiligen Schrift gerechtfertigt werden kann. Die moderne Kultur und der menschliche Fortschritt werden so positiv anerkannt, ja geradezu gerühmt, daß der Text den Eindruck eines gewissen Säkularismus erweckt… Es fehlt nämlich – und das beweist auf der anderen Seite diese gefährliche Tendenz – die Theologie des Kreuzes und jene wesentliche Forderung des Herrn an den Jünger, sich selbst zu verleugnen und sein Kreuz auf sich zu nehmen… Gelegentlich scheinen die Aussagen fast wörtlich identisch zu sein mit den Phrasen kommunisti­scher Propaganda, in unseren Gegenden auch von den sogenannten ‚progressiven Christen’ immer von neuem wiederholt.“ (Zitat nach: Deutsche Tagespost vom 22.April 1995, 3). Hat nicht Raymond Leo Kardinal Burke recht, wenn er jüngst das richtige Verhältnis der Kirche zur Welt wiederherzustellen versucht, indem er in einem Interviewbuch sagt: „Die Forderung, die Kirche solle der Gegenwartskultur begegnen, ist nur recht und billig, aber eben nicht um mit ihr einen Kompromiss zu schließen, sondern um Zeugnis für Christus abzulegen, der allein eine Kultur in der Weise zu verwandeln vermag, dass sie dem Gemeinwohl dient.“ (Hoffnung der Welt, deutsche Ausgabe, Bad Schmiedeberg 2020, 65) Wie denkt aber der jetzige Papst Franziskus über das „aggiornamento“, wie es Johannes XIII. gefordert hatte? Wie sieht es bei ihm aus? Er geht zweifellos noch über alles bisher in Rom Postulierte hinaus, obwohl alles auf derselben Linie liegt. In einem Interview, das er wieder einmal dem italienischen Atheisten und Journalisten Eugenio Scalfari gab, bekannte er frei heraus: „Ich bin angetrieben, wie Sie wissen, weil wir schon mehrfach darüber gesprochen haben, vom Wunsch eines aktiven Überlebens unserer Kirche, daß wir unseren kollektiven Geist der modernen Zivilgesellschaft anpassen.“ Das kommt mir ungefähr so vor, als wenn man einem schwer Rauschgiftsüchtigen, der schon lebensgefährlich erkrankt ist, zur Genesung eine tödliche Menge Heroin verabreichen wollte. Folglich gilt für Franziskus: „Das Klima muß unsere erste Sorge sein.“ Und wer noch zögern sollte, daß hinter den ungeheuren Migrationsschüben, die das Gesicht Europas, vor allem das meines Vaterlandes Deutschland so massiv verändert haben, nur Zufälle und keinerlei Planungen[6] stecken, lese weiter im Interview, das in der italienischen Zeitung „la Reppublica“ am 16. Januar 2020 erschien[7]; hier sieht man, wie weit die Anpassung der Kirche an den Geist der heutigen Welt gehen soll, der von den freimaurerischen Plänen der One World-Ideologie gekennzeichnet ist: „Auf diese Weise neigen die Völker unserer Spezies dazu, ein neues Volk zu schaffen, in das die Qualitäten und Mängel der Ursprungsvölker zusammenfließen, um eines zu schaffen, von dem man hofft, daß es besser ist. Das ist das Thema der Migrationen und Einwanderungen…“ Jetzt weiß man auch ganz genau, warum sich Franziskus immer wieder so vehement, ja aggressiv für die Migration einsetzt! Die Völker neigen übrigens gar nicht wie hier behauptet zu dieser Ideologie der One World, die von internationalistischen Sozialisten und internationalistischen Großkapitalisten in einer Mesalliance gefördert wird, sondern es wird ihnen von den Weltmächtigen aufgezwungen!   

Die eine „menschliche“ Welt: Ziel der Christen?

Wenn im oben aus „Gaudium et spes“ angeführten Text ferner von der „Einswerdung der Welt“ und von der Aufgabe, eine „bessere Welt“ zu schaffen, die Rede ist, dann handelt es sich nicht um periphäre Aspekte. Im Gegenteil, hier liegt das Zentrum der Pastoralkonstitution; um dieses Zieles willen wurde sie überhaupt verfaßt. Das hat der damalige Luzerner und heutige Freiburger Dogmatiker Helmut Hoping ganz richtig dargestellt: „Ökumenische Konzilien beanspruchen, gesamtkirchliche Antworten auf zentrale Problemlagen des Glaubens zu geben. Im letzten Konzil ging es nicht – wie bei den ökumenischen Konzilien bislang – um eine tatsächliche oder auch nur vermeintlich bestehende Gefährdung des Glaubens, die eine Verständigung über Fragen des Glaubens auch mit Hilfe von Definitionen und negativen Abgrenzungen, also in juridischer Form, erforderlich gemacht hätte oder zu machen schien. Die Herausforderung war vielmehr eine geschichtliche Veränderung weltweiten Ausmaßes, eine alle Völker und Kulturen betreffende Transformation. Dies machen mit wünschenswerter Klarheit schon die Ansprachen deutlich, die Papst Johannes XXIII. in der Vorbereitungsphase des Konzils und zu seiner Eröffnung gehalten hat: In unterschiedlichen Zusammenhängen nennt der Papst als grundsätzliches Ziel des Konzils die Verkündigung der christlichen Lehre in der gegenwärtigen Moderne, in der sich die Menschheit auf eine Einheit zu bewegt.“[8] Ja, in verschiedenen Stellungnahmen der Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. wird sogar eine „Neue Weltordnung“ (Nuovo Ordine Mondiale) gefordert, dazu bedürfe es der „Präsenz einer wahren politischen Weltautorität“, wozu auch eine gewisse Übertragung nationaler Souveränität an diese Einrichtung vonnöten sei.[9] Solche Forderungen sind nicht direkt in sich schlecht. Ähnliche Pläne finden sich auch schon bei Papst Pius XII. Dort aber sind sie in einen eindeutig katholischen Rahmen eingefügt. Wenn man die heutige Politik auf nationaler und internationaler Ebene betrachtet, vor allem die modernen Überwachungs- und Kontrollmöglichkeiten, kann es einem schon angst und bange werden. Denn wo werden noch christliche Grundsätze beachtet?  

Zur Herstellung bzw. Sicherung einer solchen Einheit soll die Kirche laut II. Vatikanum mit allen Kräften der Welt, ja sogar den Atheisten, zusammenarbeiten, wie es in GS 21,6 ausdrücklich heißt. Dem Kommentator des Jahres 1968, der kein Geringerer als Joseph Ratzinger war, entging nicht, daß diese Forderung durch die Tradition der Kirche nicht gedeckt war; trotzdem begrüßte er die Entwicklung. So notierte er: „Gegenüber der Situation, wie sie zu Zeiten Pius XII. bestanden hatte, ist das ohne Zweifel ein bedeutender und mutiger Schritt.“[10] Welche Einheit ist hier gemeint? Die Einheit der wirtschaftlich und kulturell von Gott heute immer mehr entfernten „One World“? Jene Einheit, die die christliche Lehre und ihre Moral mit Füßen tritt? Die unter ständiger, geradezu aufdringlicher Führung des Papstes Franziskus uns auf eine Öko-, Migranten – und neuerdings vielleicht auch noch eine Hygienediktatur vorbereitet? Die Antwort mag sich jeder selbst geben! 

Ja, die „gesamte Menschheitsfamilie“ („universa familia humana“), so Gaudium et spes, soll sich sogar „überall ihrer Einheit schon besser bewußt sein“ („ubivis suae unitatis melius iam conscia“, GS 77) und soll im „Stadium ihres Reifeprozesses an einen entscheidenden Punkt gelangt sein“ („ad horam summi discriminis in suae maturitatis processu pervenit“, GS 77). Also schon damals trug man sich im Keim mit derartigen Gedanken, deren grauenhafte Früchte jetzt langsam, aber sicher heranreifen! Hatte der schon vor vielen Jahren leider viel zu früh verschiedene Hattersheimer Pfarrer Hans Milch und Gründer der „Spes unica“ nicht in der Sache prinzipiell völlig recht, wenn er solch einen Text, vielleicht verbal etwas scharf, mit den Worten kommentierte: „Das ist eine dicke Irrlehre. Es ist völlig unmöglich, daß die Menschheit kollektiv zur Reife kommt, ganz abgesehen davon, daß es der weithin zu machenden Erfahrung absolut widerspricht. Der Mensch ist vom Geistigen in diesem nihilistischen Jahrhundert so tief abgekommen wie nie zuvor.“[11]  

Muß man sich angesichts solcher Analysen, die sich leider eben durchaus auf den Text gerade von „Gaudium et spes“ stützen können, wundern, wenn der bedeutende Mariologe und glaubenstreue Priester Tibor Gallus SJ in seinem „Geisti­gen Testa­ment“ unter dem Titel „Abwei­chung von der Frohbot­schaft“ eine negative Gesamtdiagnose über das II. Vatikanum fällt: „Den Men­schen zu gefallen war das Leitmotiv des Kon­zils…“ So schrieb Pater Gallus im An­hang zu seinem Büchlein Buch „Der Rosenkranz – Theologie der Muttergottes“ (2.Aufl. Stein am Rhein 1983, 101).

Die eine Welt: Mit oder ohne Christus?

Kommen wir auf „Gaudium et spes“ zurück! Gerade dieses Konzilsdokument ist immer wieder von Gedanken geprägt, bei denen der Mensch und die Einheit der Menschheit im Mittelpunkt stehen. Hat nicht Heinrich Döring recht, wenn er – seinerseits freilich zustimmend – mit Berufung auf GS 44 (Überschrift: „Die Hilfe, die die Kirche von der heutigen Welt empfängt“) die Diagnose stellt: „Nicht zuletzt ist es also die Welt – das wird dankbar vermerkt -, die die Kirchen (sic, im Plural! H-L B) in die größere Gemeinsamkeit hineindrängt“?[12]

Alle Menschen sollen nach der Pastoralkonstitution zu einer weltweiten Gemeinschaft zusammenwachsen: „Die Christen müssen auf der Pilgerschaft zur himmlischen Vaterstadt suchen und sinnen, was oben ist (Kol 3,1-2); dadurch wird jedoch die Bedeutung ihrer Aufgabe, zusammen mit allen Menschen am Aufbau einer menschlicheren Welt mitzuarbeiten, nicht vermindert, sondern gemehrt.“ (GS 57,1) Dieser Satz ist, vor allem aufgrund seines ersten Teils, sicher nicht ganz falsch. Aber er kann nur dann wirklich Gültigkeit beanspruchen, wenn die „menschlichere Welt“ eine „christlichere Welt“ ist. Das aber wird nicht gesagt, ebenfalls nicht in GS 55, woraus wir oben zitiert haben, zumindest nicht direkt. Dort war nur die Rede von „der Geburt eines neuen Humanismus“. GS 57,6 fordert ferner sogar alle Katholiken auf, einen Beitrag zu leisten zum „Geist der internationalen Solidarität“ (sensus solidarietatis internationalis): Man glaubt eher das Abschlußkom­muniqué einer sozialistischen Parteiver­samm­lung zu le­sen als einen katholischen Konzilstext!

Worauf soll sich die Einheit der Menschen gründen?

Die Pastoralkonstitution spricht dann sogar konkrete Ratschläge für die praktische Gestaltung der Einheit unter den Völkern aus, Ziel soll eine „Universalkultur“ („universalis cultura“, GS 61, 3) sein. Auch hier steht wieder nichts davon, daß diese nach dem Missionsauftrag des Herrn eine christliche sein müßte. Warum ist man in „Gaudium et spes“ so zögerlich und unscharf, was den einzig möglichen Weg zu einer solchen Kultur angeht, die alle Völker wahrhaft einigen könnte? T.S. Eliot war hier realistischer und weitsichtiger, zumindest jedenfalls klarer und mutiger. In seinem Werk „Notes towards the Definition of Culture“ (New York 1949) bemerkte er: “Darunter (d.h. unter der Weltkultur) verstehen wir etwas anderes als das, was die Anhänger einer Weltföderation in ihren Plänen stillschweigend voraussetzen. Ohne einen gemeinsamen Glauben (without a common faith) aber können alle Bemühungen um kulturelle Annäherung der Nationen nichts zustande bringen als eine Schein-Einheit.“[13]

Auch die Kirchenväter haben klar gesehen, worauf sich die wahre Einheit der Menschen gründet bzw. gründen muß. Im Band „Adam“ der neuen Reihe „Biblische Gestalten bei den Kirchenvätern“[14] wird ihre Position so referiert: „… die Einheit des Menschengeschlechts bleibt noch etwas Äußerliches, solange nur erklärt wird, dass alle Menschen (wenn auch sehr entfernt) miteinander verwandt sind, weil sie von dem einen Urvater Adam abstammen. Ihr eigentliches Fundament erhält die Lehre von der Einheit des Menschengeschlechtes erst durch die biblische Aussage, dass der Mensch Bild Gottes und ihm ähnlich ist, dass also alle Menschen deshalb eins sind, weil sie in einem Urbild ihre tiefste Gemeinsamkeit und Gemeinschaft finden.“ Dieses Urbild ist aber, wie im Kapitel „Bild Gottes“[15] des genannten Buches gezeigt wird, nach der Lehre der Kirchenväter der dreifaltige Gott, zu dem wesentlich die Person Christi gehört. Nur in ihm gibt es also wahre Einheit!

Das hat auch Papst Benedikt XVI. in einer früheren Schrift ganz richtig dargestellt, die den Titel trägt „Die Einheit der Nationen – Eine Vision der Kirchenväter“ (Salzburg 1971, Zitat 34). Dort wird die Lehre der Väter so zusammengefaßt: „Das Sein Jesu Christi und die Botschaft Jesu Christi haben eine neue Dynamik in die Menschheit getragen, die Dynamik des Übergangs aus dem zerrissenen Sein der vielen einzelnen in die Einheit Jesu Christi, in die Einheit Gottes hinein. Und die Kirche ist gleichsam nichts anderes als diese Dynamik, dieses In-Bewegung-Kommen der Menschheit auf die Einheit Gottes hin. Sie ist ihrem Wesen nach Übergang. Vom zerrissenen, gegen den andern gewendeten Menschsein zum neuen Menschsein, zur Vereinigung des Zerscherbten hin.“ Es gibt also keine wahre Einheit der Menschen außerhalb der Kirche, außerhalb des Mystischen Leibes Jesu Christi (auf den Ratzinger in den folgenden Sätzen noch zu sprechen kam)!

Auch die diesbezügliche Lehre des hl. Augustinus entspricht ganz der kirchlichen Tradition, der protestantische Theologe Egon Franz, Schüler des bekannten protestantischen Bonner Gelehrten Ernst Bizer, faßte sie so zusammen: „Das zu erreichende Ziel der einen Menschheit verlangt kategorisch die eine Kirche, in der die Menschen zur Einheit versammelt werden.“[16]

Gott, nicht der Mensch steht im Mittelpunkt!

Daß jedenfalls dem Menschen, zumindest hier und da, in der Pastoralkonstitution auf Kosten Gottes ein zu hoher Rang beigemessen wird, läßt sich kaum bestreiten. In GS 12 war schon eine rein humanistische Basis für das Verständnis aller Menschen untereinander gelegt worden: „Es ist fast einmütige Auf­fassung der Gläubigen und Nichtgläubigen, daß alles auf Erden auf den Menschen als seinen Mittel – und Höhepunkt hinzuordnen ist.“ Ein Christ müßte ja wohl in erster Linie einmal festhalten, daß „alles auf Erden auf Gott als seinen Mittel – und Höhepunkt hinzuordnen ist“. Die Ausrichtung auf den Menschen gilt nur in zweiter Linie. Immerhin lesen wir in GS 10: „(Die Kirche) glaubt, daß in ihrem Herrn und Meister der Schlüssel, der Mittelpunkt und das Ziel der ganzen Menschheitsgeschichte gegeben ist.“ Aber damit ist die Fragwürdigkeit des Satzes aus GS 12, in sich betrachtet, nicht aufgehoben, nur in gewisser Weise relativiert.

Christoph Kardinal Schönborn rückte die zwischen Schöpfer und Geschöpf bestehende Ordnung ins richtige Licht: „Als erstes Charakteristikum der christlichen Auffassung von der menschlichen Würde gilt es festzuhalten, daß alle Werke Gottes auf ihn hingeordnet sind und in ihm ihr Ziel haben.“[17] In der zugehörigen Anmerkung[18] zitiert er dann GS 12. Die Stelle führt er mit der Bemerkung ein: „Das Zweite Vatikanum geht noch weiter, wenn es sagt…“ In Wahrheit geht das Zweite Vatikanum jedoch nicht weiter, sondern es setzt einen ganz anderen Akzent. Wie es richtig heißen könnte, kann man den folgenden Ausführungen des Wiener Erzbischofs entnehmen. Nachdem dieser unmittelbar nach dem oben angeführten Satz ein einschlägiges Zitat aus dem „Brief an Diognet“ eingeführt hat, fährt er nämlich fort: „Es ist die Vorstellung von einer Welt, die ganz von den Spuren der göttlichen Güte geprägt ist und die für den Menschen erschaffen wurde, der seinerseits für Gott erschaffen wurde.“ 

Noch problematischer ist es, wenn es in GS 24, 3 heißt, der Mensch sei „auf Erden die einzige von Gott um ihrer selbst willen gewollte Kreatur“. Die Gefahr, die gerade von diesem Satz ausgeht, geben auch Gelehrte zu, die man nicht unmittelbar dem sog. „traditionalistischen“ Lager zurechnen kann. Man lese z. B. den Beitrag von Brunero Gherardini, „Sola creatura quam Deus propter seipsam voluit“ (in: Doctor Angelicus 6/2006, 263-279). Der bekannte italienische Thomist zeigte auf, wie wenig jener berühmte Satz des II. Vatikanums in der Theologie des hl. Thomas und der Lehre der katholischen Kirche verwurzelt ist. Denn jede Kreatur ist zwar in gewisser Weise auf den Menschen als die „Krone der irdischen Schöpfung“ hin ausgerichtet. Ja der Mensch ist sogar „Endzweck der Schöpfung, dem die ganze Natur teleologisch untergeordnet ist“, wie Giovanni B. Sala SJ formulierte.[19] Er selbst aber wurde wiederum nicht um seiner selbst, sondern um Gottes willen und zu dessen Ehre und Verherrlichung geschaffen. Die Vorstellung, daß der Mensch als einziges Lebewesen um seiner selbst willen existiert, ist in der Moderne eine typisch Kantische. Hierauf hat die protestantische Kölner Philosophin Edith Düsing, und zwar unabhängig vom Konzilstext, in einem lesenswerten Buch hingewiesen (Nietzsches Denkweg: Theologie – Darwinismus – Nihilismus, München 2006, 541).

Auch in der Antike begegnet übrigens jenes Denken schon in einem christlichen Text, und zwar bei Laktanz (Epitome c. 64). Nur daß es dort zurückgewiesen und als falsche Vorstellung von (heidnischen) Philosophen bezeichnet wird! Wörtlich sagt der christliche Apologet: „Cuncta igitur propter hominem deus fecit, quia usui hominis cuncta cesserunt. Recte ergo viderunt hoc philosophi, sed illud, quod sequitur, non viderunt, quod ipsum hominem propter se fecerit. Erat enim consequens et pium et necessarium, ut, cum hominis causa tanta opera molitus sit, cum tantum illi honoris, tantum dederit potestatis, ut dominetur in mundo, et homo agnosceret deum tantorum beneficiorum auctorem, qui et ipsum fecit et mundum propter ipsum, eique cultum et honorem debitum redderet.“ – „Alles hat Gott also um des Menschen willen geschaffen, weil alles der Nutzung des Menschen anheim gefallen ist. Richtig haben dies also die Philosophen gesehen; aber das, was daraus folgt, haben sie nicht gesehen, daß er nämlich den Menschen seinerseits um seinetwillen (d. h. um Gottes willen) geschaffen hat. Denn da er so große Werke um des Menschen willen in Gang gesetzt hat und er ihm soviel Ehre und soviel Macht verliehen hat, daß er in der Welt herrschen kann, wäre es nur folgerichtig, pflichtgemäß und notwendig gewesen, daß auch der Mensch Gott als Urheber so großer Wohltaten erkannte, der sowohl ihn selbst geschaffen als auch die Welt seinetwegen, und ihm die geschuldete Verehrung und Ehre erwies.“    

„Höhepunkt“ der Pastoralkonstitution: „Gaudium et spes“ Nr. 22

Außerordentlich problematisch ist auch GS 22, eine Stelle, die Jörg Splett nicht ohne Grund als „den Höhepunkt des gesamten Textes“ bezeichnet[20] – man kann diesen Begriff auch weniger positiv benutzen, als er ihn verstanden wissen will! Dort wird behauptet, daß durch die Offenbarung Christus „dem Menschen selbst den Menschen voll kundmache“ (GS 22,1) und daß „der Sohn Gottes sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt habe“ (GS 22,2). Hier haben wir abermals eine Stelle vor uns, wo die Gedanken zwar nicht in sich völlig falsch, aber sehr mißverständlich sind. Solche Passagen müßten von einem gesunden Lehramt in einem katholischen Sinn verbindlich ausgelegt werden. Andere Stellen wären gänzlich zu beseitigen oder zu korrigieren. Es sind nicht sehr viele, aber durchaus wirkmächtige. GS 22,2 kann nun die besondere Würde des Menschen, und das heißt zunächst einmal, jedes Menschen, erklären, und zwar in gewisser Weise noch über Gen 1,26 f. (Gottähnlichkeit des Menschen) hinaus. Zu dieser Würde ist er nämlich auch, und sogar in einem noch gesteigerten Maße, durch die Inkarnation der Zweiten Göttlichen Person, durch dessen Menschwerdung, gelangt[21], wie es GS 22, 2 selbst aussagt: „Da in Ihm die menschliche Natur angenommen, nicht zerstört ist, ist sie eben dadurch auch in uns zu erhabener Würde erhoben worden.“ Die zitierten Sätze können aber, was dann auch kräftig nach dem Konzil geschehen ist, einerseits einen gefährlichen Anthropozentrismus fördern, so daß der Mensch selbst und nicht mehr Gott im Mittelpunkt steht, andererseits die notwendige Unterscheidung zwischen Natur und Gnade schwächen.

Mangelnde Unterscheidung von Natur und Gnade in „Gaudium et spes“ Nr. 22

Das dahinterstehende Konzept geht nachweisbar, wenngleich in teilweise modifizierter Form, auf Theologen wie Henri de Lubac[22] und Karl Rahner zurück. Jedenfalls enthalten die genannten Formulierungen einen beträchtlichen Sprengstoff, der im Denken und Handeln Papst Johannes Pauls II. dann auch tatsächlich geradezu explodiert ist. Der Satz bildete in jener Deutung einen wichtigen Hintergrund der ökumenistischen und interreligiösen Aktivitäten in der nachkonziliaren Zeit: Alle Menschen sind letztlich erlöst, die katholischen Christen genießen nur den Vorteil, daß sie das wissen, Mission hat nicht die Vermittlung des Heils zum Ziel, sondern dessen Bewußtmachung![23] Näheres möge man nachlesen in meinen Ausführungen „Rahners Theorie vom anonymen Christentum, ‚Gaudium et spes’ 22 des II. Vatikanums und die Lehre Papst Johannes Pauls II., in: David Berger (Hrsg.), Karl Rahner – Kritische Annäherungen, Quaestiones non disputatae, Siegburg 2004, 383- 449.

Wenn aus den in sich nicht direkt falschen Sätzen in GS 22 die richtigen Schlußfolgerungen an dieser Stelle hätten gezogen werden sollen, so hätte das II. Vatikanum unbedingt deutlich und ohne Umschweife auf die Konsequenz der Inkarnation Gottes für jeden Menschen hinweisen müssen: Der Zweiten Göttlichen Person, Ihm, der mit uns für alle Zeiten unsere menschliche Natur teilt, da er sie mit in die himmlische Herrlichkeit aufgenommen hat[24], sind wir aufgerufen in allem nachzueifern, ihm ähnlich, ja ein wahres Abbild seiner selbst durch die Nachahmung seines Lebens und seines Opferwirkens zu werden. Diese großartige Vision, die das Leben aller Menschen und der ganzen Welt radikal zum Besseren wenden würde, ist sehr schön bei dem bedeutenden katholischen Exegeten C. Spicq O.P. ausgeführt, und zwar in: Théologie morale du Nouveau Testament, Tome II, Paris 1965, Kap. „L’image de Dieu“, 688-720, v. a. 706 ff. Eine solche Perspektive läßt uns auch die Menschenwürde in ihrer theologisch tiefsten Dimension erkennen. P. Matthias Gaudron hat in seinem Beitrag zu den Menschenrechten diesen wichtigen Aspekt noch einmal herausgestellt: „Die Kirche lehrte die Menschen, in jedem Mitmenschen den Bruder zu sehen, für den Christus gestorben ist, was die tiefste Begründung der Menschenwürde ist.“[25]    

Die Wissenschaft hat mit ihrem Fortschritt die Offenbarung zu respektieren, nicht umgekehrt

Jener problematische, mindestens an verschiedenen Stellen zum Naturalismus tendierende Humanismus der Pastoralkonstitution ist dann immer wieder mit dem seit Jahrzehnten allgemein üblichen inner­weltlichen Fort­schritts­glauben gekoppelt, den ja gerade auch Papst Benedikt XVI. in seiner Enzyklika „Spe salvi“ zu Recht in Frage stellte. In GS 5,3 wurde er unkritisch referiert und damit letztlich indirekt bejaht; zumindest fehlt eine notwendige Distanzierung bzw. Relativierung: „So voll­zieht die Menschheit einen Übergang von einem mehr statischen Ver­ständnis der Ordnung der Gesamtwirklichkeit zu einem mehr dynami­schen und evoluti­ven Verständnis…“

 Dieser Fortschritt hat offenbar auch das kirchliche Denken zu prägen. Denn in GS 62,6 wird den Katholi­ken aufge­geben, es sollten „religiöses Leben und Rechtschaffenheit des Herzens mit der wissen­schaft­lichen Erkenntnis und dem täglich wachsenden technischen Fort­schritt bei ihnen Schritt halten“ („…ut religionis cultus animique probitas apud ipsos pari gressu procedant cum scientiarum cognitione et cotidie progredientibus technicorum artibus“). Noch Pius XII. hatte in seiner Enzyklika „Humani generis“ die Akzente im Verhältnis von Wissenschaft und christlicher Religion zueinander ganz anders als das II. Vatikanum gesetzt und dem offenbarten Glauben den absoluten Vorrang eingeräumt (DH 3895-3899). Immerhin ist der nicht unproblematische Ansatz von GS 62,6 durch seine Fortsetzung etwas gemildert, wo die Katholiken aufgefordert werden, „alles aus einer umfassenden christlichen Haltung zu beurteilen und zu deuten“. Sollte man gerade in der heutigen Zeit nicht umso mehr betonen, daß von vorn­herein jedwede Erkenntnis nur dann den An­spruch auf echte Wissen­schaftlich­keit erheben kann, wenn sie nicht im Widerspruch zu den ewigen Wahr­heiten steht?

Wenn man nun ein Fazit zu solchen Aussagen wie in GS 57 ziehen will, so kann man nicht anders als Theodor W. Adorno, dem namhaften Vertreter der Frankfurter Schule, recht geben, der einmal gegenüber seinem Doktoranden Walter Hoeres, dem später bekannten katholischen Philosophieprofessor, zum Fortschrittsoptimismus des Konzils äußerte: „Wir Linken haben uns vom Fortschrittsoptimismus verabschiedet, ihr Katholiken ‚entdeckt’ ihn nun mit der bei euch üblichen Zeitverzögerung.“[26]

Nächte Woche behandeln wir die Frage, ob in der Erklärung Nostra Aetate eine Abkehr vom Missionsbefehl stattfindet.


[1] Zitat nach LThK (2.Aufl.1968) 14,457. Ich ziehe für die deutschen Fassungen auch immer folgendes Werk heran: Herders theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, hg. von Peter Hünermann und Bernd Jochen Hilberath, Bd. 1, Freibg./B. 2004. Im Einzelfall behalte ich mir vor, eigene Übersetzungen des allein verbindlichen lateinischen Urtextes vorzulegen.

[2] „Ohne Zweifel“ fehlt im lateinischen Urtext und wird zu Recht in der neuen Übersetzung ausgelassen (Herders theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, 1, 681).

[3] Paolo VI., Insegnamenti, VII/1969, 493 f.; zitiert nach: sì sì no no 37,2/2011, 4

[4] Mit dem 20. Jahrhundert sind Völkermord und Vertreibung in einem Maße verbunden, das es so nie zuvor gegeben hat! Man lese nur einmal das Buch „Ausgrenzung, Vertreibung, Völkermord – Genozid im 20. Jahrhundert“ von Wolfgang Benz, Professor für Geschichte an der TU Berlin (1. Aufl. München 2006, 2. Aufl. München 2007). Schon von daher besteht nicht der geringste Anlaß zu einem dynamischen Geschichtsverständnis, das unsere Epoche prinzipiell in besserem moralischem Licht als die vergangenen Jahrhunderte erscheinen lassen möchte. Eine wesentliche Besserung der Lage ist auch in den vergangenen Jahren trotz mancher Interventionen von verschiedenen Seiten nicht in Sicht. Das letzte Kapitel des genannten Buches trägt zu Recht die Überschrift „Ethnisierung – Vertreibung – Völkermord. Die Wiederkehr des Schreckens am Ende des 20. Jahrhunderts.

[5] AAS 58/1966, 52 f. Eigene Übersetzung des lateinischen Originals.

[6] Siehe hierzu meinen Aufsatz „Muslimische Immigration. Hintergründe und Folgen“, in: Die Neue Ordnung 73,1/2019, 15-30.

[7] Zitat der deutschen Übersetzung nach: katholisches.info vom 17. Januar 2020.

[8] Helmut Hoping, Die Kirche im Dialog mit der Welt und der sapientiale Charakter christlicher Lehre – Pragmatik und Programmatik des II. Vatikanums im Kontext der Globalisierung, in: Peter Hünermann (Hrsg.), Das II. Vatikanum – christlicher Glaube im Horizont globaler Modernisierung. Einleitungsfragen, Paderborn 1998, 86 f. Im folgenden ist immer wieder die Rede von der „Einheit des ganzen Menschengeschlechts“, von der „einen Welt“ usw. Immerhin wird mit Rückgriff auf die Konzilseröffnungsansprache „Gaudet Mater Ecclesia“ Papst Johannes’ XXIII. die „Bedeutung des Glaubens für den Weg zur ‚Einheit der Menschheit’“ herausgestellt (a. O. 87). Fragt sich, ob das der unversehrte traditionelle Glaube der katholischen Kirche sein soll! Mit Recht hat Walter Hoeres, auch gerade mit Blick auf die Theologie Papst Johannes Pauls II., die hiervon bis auf den Kern geprägt war, an einem solchen Konzept Kritik geübt und dessen deutliche Abweichung z.B. von der Enzyklika „Mortalium animos“ Papst Pius’ XI. aus dem Jahre 1928 konstatiert (Die Preisgabe von Heimat und Vaterland. Kirche unterwegs zur Einheit der Menschheit, in: Wolfgang Dewald – Klaus Motschmann [Hg.], Kirche, Zeitgeist, Nation. Gewandelte Religion, verändertes Volk? Graz 2006, 70-88, v. a. 84-86). 

[9] Mehrere solcher Stellen sind angeführt in: don Curzio Nitoglia, Non abbiamo fratelli maggiori. Perché l’Antica Alleanza è stata revocata e gli ebrei hanno bisogno di Gesù per salvarsi, Cermenate 2019, 145-148.

[10] LThK (2. Aufl.) 14, 349.

[11] Zitiert in dem wertvollen Buch von Wolfgang Schüler, das bei Auseinandersetzungen mit dem II. Vatikanum immer herangezogen werden müßte: Pfarrer Hans Milch: Eine große Stimme des Glaubens. Mit einer Kritik am Zweiten Vatikanischen Konzil, Hattersheim 2005, Bd. 1, 629.

[12] Heinrich Döring, Die Kirche in der Welt von heute. Ökumenische Aspekte der pastoralen Konstitution – Dialog mit allen Menschen, in: Die ökumenische Bedeutung der Konzilsbeschlüsse, hg. von Karlheinz Schuh, Hildesheim 1986, 122.

[13] Die deutsche Ausgabe ist unter dem Titel „Beiträge zum Begriff der Kultur“ erschienen (Berlin/ Frankfurt 1949, TB-Ausgabe RDE 1961, Zitat S. 92). Ich zitiere nach: Chr. Gnilka, Chrêsis, Die Methode der Kirchenväter im Umgang mit der antiken Kultur, Bd. II: Kultur und Conversion, Basel 1993, 126 Anm. 153. Gnilka weist im folgenden darauf hin, daß man sich – zu Recht, so finden wir – auch die ideale Vereinigung aller Menschen im Christentum nach Eliot nicht als eine „einförmige Kultur“ vorzustellen habe.  

[14] Münster 2007, 53. Dieser Band wurde von Theresia Heither OSB und Christiana Reemts OSB verfaßt.

[15] a. O. 45-61

[16] Egon Franz, Totus Christus – Studien über Christus und die Kirche bei Augustin, Diss. Bonn 1956, 60.

[17] Christoph Kardinal Schönborn, Der Mensch als Abbild Gottes, Augsburg 2008, 44.

[18] Anm. 5, S. 145 f.

[19] Von Sprachtücken, Wertewandel, verdrängtem Naturrecht und philosophischen Hintergründen, in: Die Tagespost vom 8. April 2008, S. 12.

[20] Jörg Splett, „Gaudium et spes“ wiedergelesen, in: IKaZ Communio 34 (Nov./Dez.) 2005, 591. Das Rahmenthema des Heftes lautet: „Das II. Vatikanische Konzil … wieder gelesen.

[21] Diese Tatsache erwähnt selbst ein ganz vom Geist des Laizismus und der Aufklärung geprägter Autor wie der Geschichtsdidaktiker Axel Herrmann: „Im Neuen Testament erfuhr die Würde des Menschen dadurch eine unschätzbare Steigerung, dass Gott seinen Sohn menschliche Gestalt annehmen und zur Erlösung der Menschheit den Kreuzestod erleiden ließ.“ (Idee der Menschenrechte, in: Informationen zur politischen Bildung 297/2007, 7. Die Reihe wird seit Jahrzehnten von der Bundeszentrale für Politische Bildung herausgegeben. Ich danke Herrn Otmar Mengels für das Geschenk dieses Heftes).  

[22] Siehe z. B. die Feststellung Rudolf Voderholzers (jetzt Bischof von Regensburg), eines der besten de Lubac-Kenners: „Die Artikel 19 bis 22 von Gaudium et spes, in denen es um den modernen Atheismus und die angemessene Antwort der Kirche geht, läßt bis in einzelne Formulierungen hinein die Inspiration de Lubacs erkennen.“ (Henri de Lubac begegnen, Augsburg 1999, 64).

[23] Richtig hat P. Matthias Gaudron diese Konsequenz gesehen und mit einem Zitat aus Rahners Schriften belegt (Natur und Übernatur – Worin besteht ihr gegenseitiges Verhältnis? In: Rundbrief der Priesterbruderschaft St. Pius X. an die Priesterfreunde 18/2008, 6 f.).

[24] Siehe das Gebet „Communicantes“ vom Himmelfahrtstag im klassisch-römischen Ritus: „Com­munican­tes, et diem sacra­tissimum celebrantes, quo Dominus noster, unigeni­tus filius tuus, unitam sibi fragilitatis nostrae substantiam, in gloriae tuae dextera collocavit…“ – „In heiliger Ge­mein­schaft feiern wir den hochheiligen Tag, an dem unser Herr, Dein eingeborener Sohn, unsere Natur mit ihrer Gebrechlichkeit, die er mit Sich ver­eint, zur Rechten Deiner Herrlichkeit gesetzt hat…“ Die Übersetzung schließt sich der deutschen Fassung des „Bomm“ an. Der „Schott“ wird der geradezu drastischen Formulierung des Originaltex­tes nicht ganz so gut gerecht, wenn er als deutsche Version vorlegt: „In heiliger Gemeinschaft feiern wir den hochheiligen Tag, an dem unser Herr, Dein eingeborener Sohn, Sich mit unserer gebrechlichen Natur, die Er angenommen, zur Rechten Deiner Herrlichkeit gesetzt hat.“

            Diese katholische Wahrheit begegnet auch sonst in der Liturgie, so z. B. im Sermo 1 „De Ascensione Domini“ des hl. Papstes Leo, der in das traditionelle Römische Brevier als Lesung für die 2. Nokturn der Matutin vom Himmelfahrtstag aufgenommen ist (Lectio VI), oder in einer ur­alten Präfation aus dem „Sacra­menta­rium Veronense“, die sich allerdings nicht im Missale Romanum findet, und zwar verständlicherweise wie­derum gerade zum Fest der Himmel­fahrt des Herrn. Sie wird z.B. erwähnt bei Martin Herz, Sacrum commercium – Eine begriffsgeschichtliche Studie zur Theologie der römischen Liturgiesprache, München 1958, 302.   

[25] P. Matthias Gaudron FSSPX, Die Menschenrechte, in: Civitas 2/2008, 48.

[26] Zitat nach: Wolfgang Schüler, Pfarrer Hans Milch, Bd. 1, 629 f., mit Nachweis der Quelle auf S. 620 Anm. 1: Walter Hoeres hat diese Begebenheit selbst am 6. April 2003 anläßlich des Spes-unica-Sonntags in der Stadthalle zu Hattersheim erzählt.

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