Marco F. Gallina Archive - cathwalk.de https://www.thecathwalk.de/tag/marco-f-gallina/ Abendland & Alte Messe Sat, 07 Oct 2023 10:07:10 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.5.2 https://www.thecathwalk.de/wp-content/uploads/sites/2/2017/04/cropped-Logo-The-Cathwalk-transparenter-Hintergrund-150x150.png Marco F. Gallina Archive - cathwalk.de https://www.thecathwalk.de/tag/marco-f-gallina/ 32 32 Giottos Tempelreinigung https://www.thecathwalk.de/2017/07/08/giottos-tempelreinigung/?pk_campaign=feed&pk_kwd=giottos-tempelreinigung https://www.thecathwalk.de/2017/07/08/giottos-tempelreinigung/?pk_campaign=feed&pk_kwd=giottos-tempelreinigung#comments Sat, 08 Jul 2017 08:00:09 +0000 https://www.thecathwalk.de/?p=11084 Es gibt einige Passagen innerhalb des Neuen Testaments, die in jüngerer Zeit gerne vernachlässigt werden. Da das Evangelium heute vornehmlich als Katalog sozialer Fragen und ethischen Zusammenlebens angesehen wird, in denen Jesus nur noch als besonders „guter Mann von Nazareth“ durch die Lande zieht, rücken einige Erzählungen in den Hintergrund. Womöglich sollte man besser sagen: […]

Der Beitrag Giottos Tempelreinigung erschien zuerst auf cathwalk.de und wurde von Marco Gallina verfasst.

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Es gibt einige Passagen innerhalb des Neuen Testaments, die in jüngerer Zeit gerne vernachlässigt werden. Da das Evangelium heute vornehmlich als Katalog sozialer Fragen und ethischen Zusammenlebens angesehen wird, in denen Jesus nur noch als besonders „guter Mann von Nazareth“ durch die Lande zieht, rücken einige Erzählungen in den Hintergrund. Womöglich sollte man besser sagen: sollen in den Hintergrund gerückt werden. Zeitgeistige Käßmann-Kirchen begreifen mittlerweile alles außerhalb der Bergpredigt nur noch als reinen Schmuck; Wunder haben keinen Platz oder werden als Metaphern erklärt. Dass Jesus die Ausgestoßenen der Gesellschaft aufnimmt – Kranke, Prostituierte, Zöllner – passt in diese durchsozialdemokratisierte Zeit wie das „Teilen“, ob nun Fische, Brot oder Wein. In nahezu gnostischer Verwandtschaft zu Katharern und anderen alten Sekten nimmt das Bibelbild manichäische Züge an: hier der liebe Jesus, dort der strafende Gott des Alten Testaments, der überwunden wird.

Ausschnitt aus Fresco in Padua von Giotto

Mit der Passionsgeschichte will man natürlich das Publikum weniger behelligen. Denk doch mal jemand an die Kinder! Und was sagen Tierschützer dazu, dass Jesus einen Dämon in eine Schweineherde fahren lässt, die dann jämmerlich ersäuft? Viele wissen zwar noch, dass der Gottessohn übers Wasser laufen konnte, aber die Erinnerung, dass Jesus auch ein „Strafwunder“ wirkte, ist heute augenscheinlich in Vergessenheit geraten. Ist es dabei Zufall, dass die Verfluchung des Feigenbaums und die Tempelreinigung – sowohl bei Matthäus, als auch bei Markus – im Zusammenhang stehen?

Womöglich ist die Tempelreinigung das politisch unkorrekteste Attentat auf all jene, die Christus einen guten Mann sein lassen. Schon allein deswegen geriet die Erzählung seit einigen Jahrzehnten in den Ruch, niemals stattgefunden zu haben. Verräterisch die Argumentation, dass sie dem Gewaltverzicht der Bergpredigt widerspreche – wieder einmal der Topos, dass dies der wichtigste Teil des Evangeliums sei. Von so einer Gewichtung ist das Neue Testament jedoch weit entfernt, und allein der Umstand, dass die Bergpredigt nur bei Matthäus (und teilweise bei Lukas), die Tempelreinigung dagegen in allen vier Evangelien (!) vorkommt, sollte zu denken geben, welches Ereignis das Gedächtnis der alten Christengemeinde am ehesten prägte. Während die Bergpredigt heute möglichst groß geredet wird, geschieht mit der Tempelreinigung (und den meisten Wundern) das genaue Gegenteil.

Diese explizite Gewichtung bleibt dem Mittelalter und der Renaissance fremd. Wie schon in Dura-Europos gezeigt, sind es vor allem die handfesten Ereignisse, welche das Christentum lange prägen – und was könnte schon handfester sein, als wenn der Messias selbst „Hand anlegt“? Schon allein vom künstlerischen Anspruch erscheint eine hastige Prügelei mit Händlern und Wechslern weitaus interessanter als das gemütliche Zusammensein auf einem Berg.

Giotto di Bondone, der vielen als Wegbereiter der italienischen Renaissancemalerei gilt, machte da keine Ausnahme. Seine „Vertreibung der Geldwechsler“ befindet sich als Teil eines großen Christus-Zyklus in der Scrovegni-Kapelle von Padua, unweit des alten römischen Amphitheaters gelegen. Im Jahr 1300 kaufte Enrico Scrovegni das Gebiet der alten Arena, um dort einen Familienpalast zu errichten, zusammen mit einer Privatkapelle, für deren Ausschmückung er die größten Künstler Italiens verpflichtete. Von 1304 bis 1306 malte Giotto in Padova nicht nur den Christus-Zyklus, sondern auch das Leben der Jungfrau Maria und ihrer Eltern Joachim und Anna. Viele der berühmtesten Fresken Giottos sind daher in dieser von außen unscheinbaren Kirche zu bewundern. Auch hier fällt die Kontinuität auf, welche Ereignisse im Leben Jesu am wichtigsten erscheinen: es sind vornehmlich die Wunder, angefangen von der Geburt (wobei einige Forscher den abgebildeten Stern als Halley’schen Kometen deuten, der 1301 am Himmel erschien) über die Hochzeit von Kana und die Auferweckung des Lazarus bis hin zur Passionsgeschichte und Auferstehung. Das mittelalterliche Programm zeigt nahezu das komplette Gegenteil dessen, was heute im wahrsten Sinne „gepredigt“ wird.

Giottos Jesus ist eben kein netter Sandalenträger, sondern der Retter der Welt, der faustballend den Händlern im Tempel entgegentritt. Die Geißel in seiner Hand ist aus der Ferne kaum erkennbar; man mag meinen, der Heiland steht kurz davor, zuzuschlagen. Heiliger, gerechter Zorn ist dem Mittelalter nicht fremd und eben kein Widerspruch in sich selbst. Gerechtigkeit bedeutet immer auch Strafe. Die Pose machte auch in der Internetkultur die Runde und führte zu diesem Meme:

Es entbehrt dabei nicht der Ironie, dass der Vater von Enrico Scrovegni jener Rinaldo Scrovegni war, der als Bankier die Familie erst so vermögend gemacht hat, dass sich der Sohn einen Künstler vom Kaliber Giottos leisten konnte. Die Scrovegni gehörten zu den Patrizierfamilien Paduas und trugen ein blaues Schwein auf weißem Grund als Wappentier. Rinaldo Scrovegni war als notorischer Geizhals und Wucherer berüchtigt, sodass ihm Dante in der Göttlichen Komödie ein eher unrühmliches Denkmal setzte:

Ein blaues Schwein auf weißem Sacke bot
Sich dann dem Blick, und seine Stimm’ erheben
Hört’ ich den Träger: „Du hier vor dem Tod?
Fort! fort! doch wisse, weil du noch am Leben,
Bald findet mir mein Nachbar Vitalian,
Zur Linken seinen Sitz, hier gleich daneben.
Oft schrein mich diese Florentiner an,
Mich Paduaner, mir zum größten Schrecken:
Möcht aller Ritter Ausbund endlich nahn!
Wo mag doch die Drei-Schnabel-Tasche stecken?“ –
Hier zerrt’ er’s Maul schief und die Zunge zog
Er vor, gleich Ochsen, so die Nase lecken.

Dante setzt Enricos Vater in den siebten Höllenkreis: eine Wüste, auf die es Feuer regnet. Hier fristen die Gewalttäter ihr Schicksal – für Dante gilt Wucher als Gewalt gegen die Kunst, welche als Gotteskind gilt. Rinaldo muss sich daher „wie ein Ochse“ lecken, da sich ihm das Feuer ähnlich einem Schwarm Schmeißfliegen immer wieder auf die Haut setzt. Anscheinend konnte das Mäzenatentum Enricos den Vater nicht vor diesem Schicksal retten.

Verglichen mit dieser Dante’schen Höllenstrafe erscheint dagegen eine kleine Prügelei mit dem Heiland geradezu barmherzig.

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Die Geburt der christlichen Kunst https://www.thecathwalk.de/2017/02/24/10091/?pk_campaign=feed&pk_kwd=10091 https://www.thecathwalk.de/2017/02/24/10091/?pk_campaign=feed&pk_kwd=10091#comments Fri, 24 Feb 2017 09:05:16 +0000 http://thecathwalk.de/?p=10091 Im entferntesten Winkel Syriens liegt zwischen Euphratschlamm und Sand die antike Stadt Dura Europos. Hier, am Schnittpunkt Syriens und Mesopotamiens, steht die älteste archäologisch nachweisbare Kirche der Welt. Nicht nur wegen der syrischen Totenklage des Christentums, sondern auch der bilderfeindlichen Kritik der Reformatoren lohnt im Lutherjahr ein Blick auf die Wurzeln christlicher Ästhetik. Der Sand […]

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Im entferntesten Winkel Syriens liegt zwischen Euphratschlamm und Sand die antike Stadt Dura Europos. Hier, am Schnittpunkt Syriens und Mesopotamiens, steht die älteste archäologisch nachweisbare Kirche der Welt. Nicht nur wegen der syrischen Totenklage des Christentums, sondern auch der bilderfeindlichen Kritik der Reformatoren lohnt im Lutherjahr ein Blick auf die Wurzeln christlicher Ästhetik.

Der Sand der Zeit rieselt unbarmherzig. Er verweht die Erinnerungen an vergangene Reiche, erstickt diejenigen, die Zeugnis ablegen könnten und begräbt Städte unter Lawinen aus Staub. Der Vordere Orient bleibt den Europäern fremd. Schon Alexander der Große fand von der Pracht des alten Babylons nur noch die Trümmer des legendären Turmes vor. Heute reihen sich neben den Ruinen der Mesopotamier jene der Parther, Römer und Christen ein; der christliche Niedergang ist dabei der längste, zäheste und tragischste Prozess. Die Reiche der Alten zerfielen, aber die Anhänger des Nazareners blieben ihrer Religion treu. Seit der Kreuzigung kennt das Christentum die Verfolgung und hat Einzug in die Offenbarung des Johannes gefunden – so wie jetzt und vielleicht in alle Ewigkeit.

Von den zwei großen Strömen, die Mesopotamien ihren Namen geben, ist der Euphrat traditionell der fruchtbarere. Vom kleinasiatischen Gebirge flutet er hinab in das Syrische Becken, bevor es ihn gen Persischen Golf drängt. Die Parther, die in Zentralasien das Perserreich beerbten, sahen den großen Fluss als ihre natürliche Westgrenze an. Das gefürchtete Reitervolk herrschte drei Jahrhunderte lang über das Zweistromland. Einer der bedeutendsten Orte an dieser Westgrenze war Europos, eine Gründung der Seleukiden – jener Nachfolger Alexanders, die das Griechentum zur vorherrschenden kulturellen Kraft des Altertums machten.

Europos lag auf der rechten Euphratseite; im Osten vom Fluss, nördlich und südlich von Schluchten begrenzt, erstreckte sich die Stadt in geschützter Lage bis in den Westen, wo sich meterhohe Mauern emporhoben. Der Westwall von Europos bildete die einzige mögliche Seite, die belagert werden konnte. Die Stadt galt daher als sicher und entwickelte sich zu einem bedeutenden Handelsposten zwischen Syrien und Mesopotamien, zwischen Mittelmeer und iranischem Hochgebirge, zur Brücke zwischen der hellenistischen und orientalischen Welt. Hier hielten nicht nur Karawanen, sondern auch Schiffe und Boote des Euphrats.

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Stadtplan von Dura Europos im 2. und 3. Jahrhundert

Unter Kaiser Trajan drangen die Römer tiefer denn je nach Osten vor. Europos wurde Mitte des 2. Jahrhunderts zum Teil des Imperiums und behielt seine strategische wie handelspolitische Bedeutung. Einzig der Name hatte sich geändert: aus Europos war „Dura“ geworden. Für Reisende, die aus dem Osten nach Rom kamen, bildete das prächtig ausgebaute Dura einen Vorgeschmack auf den Glanz des Römerreichs: ein reiches Stadtleben mit verschiedensten Kulturen und Religionen, in denen der Handel pulsierte. In den Gassen klangen Hebräisch, Aramäisch, Griechisch, Latein und das Palmyrische; Heiligtümer zierten die Straßen zu Ehren hellenistischer und orientalischer Gottheiten, daneben weihten die Anhänger des Mithras ihrem Retter Heiligtümer – letzteres an eben jenem Westwall, nicht weit von einer jüdischen Synagoge entfernt.

Berühmtheit erlangte Dura jedoch wegen einer anderen Religionsgruppe, die damals den Stellenwert einer Sekte hatte. Kleiner als die Synagoge, und von außen nicht als solche erkennbar, schmiegte sich die erste nachweisbare Kirche der Christenheit an eben jenen großen Wall, der bereits vor dem Wunder von Bethlehem das alte Europos vor seinen Feinden geschützt hatte. Hier, im syrischen Osten, im Sand der alles zu verschlingen droht – oder bereits alles verschlungen hat – fanden sich die frühen Christen seit dem beginnenden 3. Jahrhundert zusammen. Die Wurzeln der Basiliken von Rom, der monumentalen Hagia Sophia von Konstantinopel, der romanischen Dome des Hochmittelalters und der Kathedralen der Gotik und der Renaissance führen sich zuletzt auf einen unscheinbaren Bau am Rande der syrischen Wüste zurück.

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Baptisterium der Hauskirche von Dura Europos; rechts die Frauen am leeren Grab

Hauskirchen sind bereits im Neuen Testament nachweisbar. Die Jünger fanden sich in den Häusern reicherer Gemeindemitglieder ein. Die Hauskirche von Dura ist jedoch anders, da sie rein sakrale Bedeutung hatte und keiner Privatperson gehörte, sondern der Gemeinde. Den Versammlungsraum zeichnet eine Nische nach Osten aus; daneben besaß das quadratische Haus einen eigenen Raum zur Taufe. Ein kleines Zimmer mit einem Baldachin als Geburtsort des Baptisteriums. Die beiden Sakramente Eucharistie und Taufe sind so zentral im christlichen Leben, dass sie eigener Räumlichkeiten bedürfen.

Historisch bedeutsam und theologisch interessant ist die Ausstattung. Das Geistige ruft das Ästhetische; wo ein Schöpfer, da ist Kreativität. Anders als es die späteren Ikonoklasten behaupteten, oder die Reformatoren vermuteten, ist dem frühen Christentum die Bildkunst keinesfalls fremd. Das Streben nach dem Höchsten lebt nicht vom Wort allein; Religion schafft Schönheit, mögen es die Götterskulpturen Griechenlands, barocke Sakralmusik oder bereits die frühesten Steinzeitmalereien sein. Es mag heute allein die Bergpredigt, die Soziallehre oder die Ethik faszinieren – aber die Alten sind ganz und gar vom Mythos beseelt. Es sind die Wunder, die Heilungen, die unerklärlichen Dinge, welche Herz und Verstand der Gläubigen fesselten. Jesus ist ein Mann der Wunder, der Gelähmte heilt und über das Wasser läuft; er ist der gute Hirte, wie wir ihn auch in den Katakomben der Ewigen Stadt finden; und er ist der Große, der Sohn Gottes, der Messias, der selbst den Tod bezwingt. Das größte und wichtigste Bild in der ersten Kirche der Welt zeigt die Frauen am Grab. Hinweis auf die Auferstehung. Sinnbild des Glaubens, der Liebe, der Hoffnung. Es ist jene Hoffnung, wie Jesus von den Toten aufzuerstehen; jene Gewissheit, dass es da mehr gibt auf dieser Welt, dass Kontinuität, dass Geist, dass Ewigkeit besteht.

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Der Gute Hirte über dem Baptisterium

Die frühen Christen scheinen schon damals das „Bilderverbot“ im Sinne Papst Gregors verstanden zu haben – lange vor irgendwelchen römischen Richtlinien; ja, sogar schon vor der Zusammenstellung der Heiligen Schrift selbst. Nicht den Gemälden gilt die Anbetung, sondern sie dienen der Anschauung und der Lehre. Umso interessanter auch die Feststellung, dass die Synagoge von Dura ebenfalls Szenen und Bilder zeigt, was lange Zeit als unvorstellbar galt. Ein weiterer Blick in das jüdische Gotteshaus verrät zudem, dass die dortigen Malereien qualitativ weit über denen in der Kirche stehen. Das unterstreicht zwei Punkte: erstens, dass die jüdische Gemeinde von Dura wohlhabender war, und sich einen besseren Maler leisten konnte; zweitens, dass die christliche Gemeinde trotz ihrer anscheinend knapperen finanziellen Mittel nicht auf eine angemessene Ausstattung verzichten wollte.

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Fresko aus der Synagoge von Dura Europos (Rettung des Moses aus dem Fluss)

Vor 1.800 Jahren wussten die Christen demnach, dass nicht demonstrativ vorgetragene Bescheidenheit Kern der Anbetung Gottes war, sondern seine angemessene Verehrung; und die Archäologie beweist damit ebenso, dass sich nahezu alle Reformatoren vertan haben, wenn sie glaubten, den alten Christen näher zu sein, wenn sie ihre Kirchen möglichst ohne bildliche Ablenkungen einrichteten. Der Triumph der Kunst ist der Triumph des Glaubens. Die frühen Christen von Dura hätten vermutlich nicht verstanden, wieso man absichtlich bescheidene Kirchen gebaut hätte, wenn schon die gemeinen Christen des 2. und 3. Jahrhunderts alles unternahmen, damit ihr Gotteshaus möglichst prächtig erschien.

Umso tragischer mutet die Gegenwart an; nicht nur, wenn man auf vermeintliche urchristliche Interpretationen innerhalb der Kirche blickt – sowohl in der evangelischen, wie auch der katholischen Spielart – sondern auch dorthin, wo der syrische Sand Dura begraben hat. Die glänzende Stadt am Euphrat fand ihr jähes Ende nach einer Belagerung durch das aufstrebende Sassanidenreich, deren Soldaten mit entzündeten Schwefelfontänen den Widerstand der Einwohner brachen. Der Ort wurde danach sich selbst überlassen. Erst Anfang des 20. Jahrhundert lüfteten Wissenschaftler von der Universität Yale den Schleier der Vergangenheit und gruben die verschiedenen Heiligtümer aus.

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Heilung eines Gelähmten

Heute beherrscht der Islamische Staat die Gegend von Dura Europos. Was in Palmyra geschah, ist bekannt. Doch von Dura, seiner Synagoge und seiner Kirche, welche zu den ältesten erhaltenen Gotteshäusern beider Kinder Abrahams gehören, dringt seit der Eroberung nichts an die Außenwelt. Die Wiege der christlichen Ästhetik wird von ihren ärgsten Feinden bewacht. Einzig der Sand, der die Mauern so viele Jahrhunderte bewachte, mag die Fanatiker aufgehalten haben. Satellitenaufnahmen lassen jedoch das Schlimmste befürchten: das archäologische Gelände ähnelt einer Kraterlandschaft. Über 70% des alten Dura Europos sollen zerstört worden sein. Die Funde gelten als Hehlerware, mit dessen Erlösen sich der IS finanziert.

Vielleicht ist es der zufälligen Vorhersehung geschuldet, dass die Malereien seit der Expedition in Yale liegen. Ein amerikanisch-französisches Team begann im Februar und März 1932 mit der Sicherung und beendete den Abtransport acht Monate später. Doch die Wehmutstropfen bleiben: einerseits, dass die Konservierung als qualitativ „mittelmäßig“ gilt – und dass jene Menschen, die diesen Glauben damals wie heute lebten, vermutlich ebenso dem Vergessen anheim gefallen sind und anheim fallen werden wie alles, was die syrische Wüste in ihren Jahrhunderten umwälzt und begräbt …

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Don Camillo und die Madonna https://www.thecathwalk.de/2016/12/07/don-camillo-und-die-madonna/?pk_campaign=feed&pk_kwd=don-camillo-und-die-madonna https://www.thecathwalk.de/2016/12/07/don-camillo-und-die-madonna/?pk_campaign=feed&pk_kwd=don-camillo-und-die-madonna#comments Wed, 07 Dec 2016 08:00:10 +0000 http://thecathwalk.de/?p=8503 Wer sich mit der Filmreihe um Guareschis berühmteste Figuren auskennt, der weiß, dass es zwei Versionen gibt: Gino Cervi und Fernandel spielten ihre Rollen gleich zweimal, die Filme wurden doppelt abgedreht. Warum? Die Frage ist bis heute nicht völlig geklärt, denn Cervi sprach auch in der französischen Version Italienisch, Fernandel Französisch im italienischen Pendant. Fakt […]

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Wer sich mit der Filmreihe um Guareschis berühmteste Figuren auskennt, der weiß, dass es zwei Versionen gibt: Gino Cervi und Fernandel spielten ihre Rollen gleich zweimal, die Filme wurden doppelt abgedreht. Warum? Die Frage ist bis heute nicht völlig geklärt, denn Cervi sprach auch in der französischen Version Italienisch, Fernandel Französisch im italienischen Pendant. Fakt bleibt, dass einige Szenen anders modelliert sind; die Aufzählung der Details würde die Bandbreite sprengen. So singen die Kommunisten bei den Franzosen die „Internationale“, bei den Italienern „Bandiera rossa“.

Neben gestalterischen Kleinigkeiten gibt es aber auch Dialoge und ganze Szenen, die der italienischen Version fehlen. Ironischerweise ist die französische die werktreuere, und beinhaltet Aufnahmen, die der italienischen Zensur zum Opfer fielen. Ein Beispiel ist die Beerdigung von Signora Cristina – die alte Königsflagge war noch in den Fünfzigern ein Politikum, weswegen diese nur ganz kurz gezeigt wird; in der französischen Beerdigungsszene wird dem Tuch und dem Leichenzug größerer Platz eingeräumt. Ebenso erschien der Selbstmordversuch des Liebespaares Gino und Mariolino im ersten Film den Sittenwächtern unangemessen; und der Kreuzweg Don Camillos im zweiten Film wurden von einigen Kritikern als mögliche Parodie (und damit: Blasphemie) gewertet, weswegen dieser in der italienischen Version deutlich kürzer ausfällt.

Wer des Italienischen oder Französischen mächtig ist, kann kurz einen Blick in dieses halbstündige Video werfen, welches einige prägnante Beispiele bezüglich des Unterschieds der beiden Filmversionen zeigt:

Bereits daran merkt man, dass die deutsche Version mehrheitlich dem französischen Original folgt. Einige Szenen, die dem italienischen Publikum mehrheitlich unbekannt sind, sind in der deutschen Fassung vorhanden. Unbekannt ist jedoch vielen vermutlich, dass auch der deutschen Version einige Passagen fehlen. Warum diese Kürzungen erfolgten, bleibt ein Rätsel. Dazu gehört neben einer Szene auf dem Rummeplplatz auch die Beerdigungsszene, die wie im italienischen Film kürzer gerät.

Ins Auge fällt aber ein merkwürdiger Schnitt, der vielleicht einigen Zuschauern schon früher aufgefallen ist. In der Episode um „Peppone ist ein Esel“ (im oben verlinkten Video ab 5:05) geschieht nämlich erstaunliches, nämlich ein Detail, das dem italienischen und deutschen Zuschauer womöglich unbekannt ist; üblicherweise nimmt man an, dass Jesus der einzige überirdische Gesprächspartner des filmischen Don Camillo ist. Nicht nur in der italienischen, sondern auch der deutschen Version bricht die Szene nämlich abrupt ab, als Jesus Don Camillo zurechtweist:

In der französischen Version wird das Geheimnis gelüftet: denn der Ausspruch ist kein reiner Hilfe-Anruf. Maria antwortet hier tatsächlich!

Camillo: „Heilige Jungfrau, komm mir zur Hilfe!“
Maria: „Diese Angelegenheit fällt eindeutig in das Feld meines Sohnes, da darf ich mich nicht einmischen!“
Camillo: „Aber Sie sind seine Mutter …“
Maria: „Gut, ich werde es mal versuchen…“
*

Die Szene wird so auch handwerklich runder. Denn am Anfang der Aufnahme putzt Don Camillo die Krönchen Mariens und des Jesuskindes, bereitet demnach szenisch das Auftreten der Gottesmutter als weitere Darstellerin vor. Schade, dass nur die französische Fassung diesen Zusammenhang wahrt.

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*In der Italienischen Version spricht Jesus dagegen streng, dass Don Camillo nicht andere Leute in die Sache reinrufen solle, die damit nichts zu tun hätten.

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Don Camillo würde sein Kreuz auf dem Tempelberg tragen! https://www.thecathwalk.de/2016/11/10/don-camillo-wuerde-sein-kreuz-auf-dem-tempelberg-tragen/?pk_campaign=feed&pk_kwd=don-camillo-wuerde-sein-kreuz-auf-dem-tempelberg-tragen https://www.thecathwalk.de/2016/11/10/don-camillo-wuerde-sein-kreuz-auf-dem-tempelberg-tragen/?pk_campaign=feed&pk_kwd=don-camillo-wuerde-sein-kreuz-auf-dem-tempelberg-tragen#comments Thu, 10 Nov 2016 10:00:11 +0000 http://thecathwalk.de/?p=8648 In Guareschis Werk und den Verfilmungen von „Don Camillo und Peppone“ spielt das berühmte Holzkreuz mit dem Heiland eine große Rolle. Die Dispute zwischen dem Priester und Jesus sind legendär. Im Streit zwischen dem „reaktionären“ Dorfpfarrer und dem kommunistischen Bürgermeister ist es letztendlich Christus selbst, der Don Camillo immer wieder auf den rechten Pfad bringt. […]

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In Guareschis Werk und den Verfilmungen von „Don Camillo und Peppone“ spielt das berühmte Holzkreuz mit dem Heiland eine große Rolle. Die Dispute zwischen dem Priester und Jesus sind legendär. Im Streit zwischen dem „reaktionären“ Dorfpfarrer und dem kommunistischen Bürgermeister ist es letztendlich Christus selbst, der Don Camillo immer wieder auf den rechten Pfad bringt.

Protestanten mögen sich damit schwer tun, da man missverständlicherweise denken könnte, Don Camillo spräche nur über das Kreuz in seiner Heimatkirche mit Jesus. Guareschi hat jedoch mehrmals genau dieser Interpretation Beispiele entgegengesetzt. So warnt Jesus seinen Schützling beim brennenden Munitionslager vor der Explosion; und als Don Camillo darum bittet, in einen Boxkampf einzugreifen, meint Christus fast empört: „Aber Don Camillo, ich bin doch kein Catcher!“

Im zweiten Film, „Don Camillos Rückkehr“, macht Guareschi sehr klar, dass es im Grunde nicht um das Kreuz, sondern das Herz geht, über das Mensch und Gott miteinander korrespondieren. Der Reverente befindet sich in der Verbannung, irgendwo in einem verschneiten und vernebelten Gebirgsdorf, wo er sich nach der warmen, grünen Ebene sehnt – und nach seiner alten Kirche, mit dem Kreuz. Jesus hat in dieser Episode kein einziges Mal gesprochen, und Don Camillo sehnt sich so sehr nach diesem Erlebnis, dass er in seine Heimatgemeinde Brescello zurückkehrt, und das Kreuz von dort mitnimmt. Die Rückkehr ins Bergdorf wird zur Passion: der Priester schleppt das schwere Kreuz den Pass hinauf und gerät in einen Schneesturm. Zuletzt bricht Don Camillo im Wind und Schnee vor Erschöpfung zusammen, fällt unter das Kreuz. Erst jetzt meldet sich Jesus wieder; der Gefallene freut sich trotz aller Mühen, dass er endlich wieder die Stimme des Herrn hört. Der erwidert aber nur, dass er der ganzen Zeit bei ihm gewesen wäre. Don Camillo habe ihn nur nicht gehört, da sein Herz verhärtet gewesen wäre.

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Die Korrespondenz mit dem Kreuz ist daher kein Götzendienst. Es handelt sich um eine komplexe Angelegenheit, die stark mit traditioneller katholischer Volksfrömmigkeit, Theologie, Erzählkunst und dem alten Konflikt der Interpretation christlicher Respektbezeugung, Verehrung und Anbetung zusammenhängt; ein Konflikt, den die Ostkirche im Zuge des Ikonoklasmus’ ein Jahrhundert lang austrug, und wo bis heute die Verehrung – nicht Anbetung – von Gottesbildern eine bedeutende Rolle spielt. Der Katholik kennt diese Begegnung mit dem Heiligen ebenso: in der Verehrung von Reliquien oder Objekten, die eben keine bloßen Symbole sind, sondern eine tiefere Bedeutung haben. Guareschi geht daher mit seiner Erzählung einen schmalen Grat: Don Camillo braucht das Kreuz nicht, um mit Jesus zu korrespondieren, aber es erleichtert ihm dem Zugang, so, wie ein christliches Oratorium in einem Dom den Gläubigen den Zugang zu Gott eröffnen kann. Das Oratorium lässt uns nicht mit Gott reden; aber die Stimmung kann den Gläubigen in den Zustand der Besinnung versetzen, der nötig ist, um diese Welt zu vergessen und mit Gott sprechen zu wollen. Wir müssen zuerst unser Herz öffnen. Wie das geschieht – ob durch die Liturgie oder durch Anschauung des Kreuzes – ist zuerst einmal uns überlassen.

Das Kruzifix ist somit kein reines Symbol. Gerade der Katholizismus und die Orthodoxie, die aufgrund ihrer historischen Wurzeln im Römischen Imperium immer wussten, dass das „In hoc signo vinces“ des Kaisers Konstantin mehr bedeutete, waren sich dessen durch die Jahrhunderte bewusst. Nahezu alle Feldfahnen des Mittelalters, im Osten und im Westen, zeigen ein Kreuz. Damit ist es nicht nur Teil der christlichen Identität selbst; mit dem Kreuz wird Jesus voran getragen und der Glaube zu ihm sichtbar bekannt. Und zwar seit dem 4. christlichen Jahrhundert!

Genau so mag man dann im historischen Geist jene Szene bei Don Camillo und Peppone interpretieren, als die Kommunisten die Prozession von Brescello boykottieren. Peppone und seine Männer drohen Gewalt an, falls einer der Dorfbewohner sich dem Priester zur alljährlichen Prozession zum Fluss anschließt. Brescello ist am Festtag wie leergefegt, niemand wagt sich auf die Straße. Nur Don Camillo selbst trägt das Kreuz voran, durch das leere Dorf, bis zum Ufer. Das Kruzifix ist hier eben mehr als nur Zeichen, nur Symbol – in einer Welt der Einschüchterung, der Drohung, der Gewalt, des militanten Atheismus wird das Bekenntnis zu Jesus erneuert. Das Kreuz muss wandern. Es muss in die Welt getragen werden. Und in der Tat: als Don Camillo dann auf Peppones Schergen trifft, die ihm den Weg abschneiden, ist es auch ein Feldzeichen. Der Priester stellt sich einem ganzen Kommunistenheer entgegen. Selbst dieses muss aber weichen, weil der Respekt vor der Tradition und dem Heiland schwerer wiegt als die Lehren von Marx. Man macht Platz, man bekreuzigt sich, geht zum Ufer. Brescello ist ohne Kreuz, ohne Christentum, ohne Prozession nicht denkbar, das Kreuz ist so sehr Fleisch vom Fleische der norditalienischen Provinz wie die Kinder und Greise, die dort leben. Es ist unauslöschlicher Teil der Identität. Brescello wäre ohne dieses Ritual und ohne dieses Objekt nicht mehr Brescello. Das wissen selbst die Kommunisten im Innersten.

Für christliche Konfessionen, die daher nicht nur vom bloßen „sola scriptura“ leben, die der Tradition und den Ritualen Platz einräumen; die nicht aus der Schrift allein leben, sondern vom lebendigen Glauben der Gemeinschaft, die nicht nur Symbole sehen, sondern Realpräsenzen; die Respekt vor Heiligenbildern und Reliquien haben; eben jene sehen traditionell den Umgang mit einem Objekt wie dem Kruzifix als gewichtiger an, als vielleicht eine protestantische Kirche. Was also deren Vertreter dort macht, soll uns hier nicht weiter angehen.

Schwieriger wird es, wenn es dann vom kirchensteuerfinanzierten Portal katholisch.de eine Apologetik gibt, welche das Vorgehen nicht nur verteidigt, sondern sogar als richtig gutheißt. Schließlich wäre ja diese Geste, dieses Zusammengehen der Bischöfe, so richtig christlich. Das ist im Sinn der Sache. Höhepunkt: eine Stelle aus dem Lukasevangelium, die quasi als Anleitung zur Selbstaufgabe dient – obwohl man „sein Kreuz auf sich nehmen“ in diesem Sinne doch mal ganz wortwörtlich hätte auslegen können. Das Pektorale ist eben „nur“ Zeichen bischöflicher Bischofsweihe (und nicht etwa das des Gekreuzigten selbst?). Ist das Zeigen des Kreuzes denn etwa keine „Tat“? Anders gefragt: hätte denn das Tragen eines Kreuzes die Verständigung zwischen den Kirchen behindert? In dieser Hinsicht verlässt der Artikel den Kampfplatz Islam völlig.

Unvorstellbar, dass Don Camillo auf dem Tempelberg sein Kreuz abgelegt hätte. Für viele Gläubigen ist der Islam in seiner Christenfeindlichkeit heute genau so bedrohlich wie in den 40ern und 50ern der Kommunismus. Ist der Pfarrer aus Brescello damit unchristlicher als die beiden Bischöfe – oder nicht genau das, was Christentum eigentlich ausmacht, nämlich Jesus nicht nur in moralischen Kategorien symbolisch zu denken, sondern auch offen am Ort seiner Hinrichtung zu bekennen? Was nützt denn das Bild zweier Bischöfe, wenn sie dafür an christlicher Identität verlieren?

Marco Fausto Gallina studierte Politik- und Geschichtswissenschaften in Verona und Bonn. Geboren am Gardasee, sozialisiert im Rheinland, sucht der Historiker das Zeitlose im Zeitgeistigen und findet es nicht nur in der Malerei oder Musik, sondern auch in der traditionellen italienischen Küche. Katholische Identität und europäische Ästhetik hängen für ihn dabei unzertrennlich zusammen. Unter den Schwingen des venezianischen Markuslöwen betreibt er seit 2013 sein Diarium, den Löwenblog.

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Italien: das kleine, gallische Dorf der Esskultur https://www.thecathwalk.de/2016/10/13/italien-das-kleine-gallische-dorf-der-esskultur/?pk_campaign=feed&pk_kwd=italien-das-kleine-gallische-dorf-der-esskultur https://www.thecathwalk.de/2016/10/13/italien-das-kleine-gallische-dorf-der-esskultur/?pk_campaign=feed&pk_kwd=italien-das-kleine-gallische-dorf-der-esskultur#comments Thu, 13 Oct 2016 05:30:38 +0000 http://thecathwalk.de/?p=5539 Kulturimperialismus findet auch auf dem kulinarischen Feld statt. Dort widersetzt sich der italienische David tapfer dem amerikanischen Goliath der Globalisierung. Ein paar Gedanken darüber, wie Amerika und Rom sich gleichen – und weshalb die USA scheitern (werden). Wer Imperien verstehen will, muss Rom begreifen. Die eigentliche Macht Roms bestand nicht im Militär, sondern im Licht […]

Der Beitrag Italien: das kleine, gallische Dorf der Esskultur erschien zuerst auf cathwalk.de und wurde von Marco Gallina verfasst.

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Kulturimperialismus findet auch auf dem kulinarischen Feld statt. Dort widersetzt sich der italienische David tapfer dem amerikanischen Goliath der Globalisierung. Ein paar Gedanken darüber, wie Amerika und Rom sich gleichen – und weshalb die USA scheitern (werden).

Wer Imperien verstehen will, muss Rom begreifen. Die eigentliche Macht Roms bestand nicht im Militär, sondern im Licht seiner Kultur. Als Rom seinen Rivalen Karthago unterwarf, war es der Hegemon des Mittelmeers geworden; aber erst, da Rom das östliche Mittelmeer erobert hatte, war es eine Weltmacht. Der Vorgänger der römischen Weltmacht bildet die alexandrinische Weltmacht, die jedoch schnell zerfiel. Was von Alexander dem Großen blieb, waren die griechischen Teilreiche, in denen die griechischen Eliten das Heft in der Hand hatten und die griechische Kultur und Sprache verbreiteten – noch im Römischen Reich galt Griechisch als Amtssprache des Ostens.

Diese Hellenisierung beendete erst die Romanisierung. Die Römer übernahmen auch Teile der griechischen Kultur, keine Frage; dennoch erfolgte hier eine Zäsur, in dessen Folge Rom unangefochten für 400 Jahre den Status einer antiken Weltmacht hatte. Umliegende Völker wurden romanisiert, obwohl sie offiziell nicht zum Reich gehörten. Selbst die Germanen, die in Deutschland noch immer als Widerständler dargestellt werden, waren eher Verbündete denn Feinde. Im regen Handelsaustausch übernahmen tributpflichtige Nachbarn und die Vertreter von Klientelstaaten die römische Kultur. Die Romanisierung war damit Zeichen eines „weichen Imperialismus“.

Hier zeigt sich die wahre Macht Roms: denn obwohl 476 das Westreich fiel, hatten selbst die romanisierten Germanen (vulgo: die Deutschen) nichts Besseres zu tun, als dieses mit Karl dem Großen wiederzubegründen und 1.000 Jahre lang weiterzuführen. Die Franken ließen römische Säulen nach Aachen schaffen und knüpften immer wieder an die Tradition römischer Imperatoren an. Die Romidee war so gewaltig, dass sie Jahrhunderte überdauerte, ja, sogar den Alltag prägte, wenn man vom Christentum als alltäglichste Tradition des Imperium Romanum denkt.

Ähnliches lässt sich für das andere Weltreich sagen: Chinas Größe fußte nicht nur auf der gewaltigen Anzahl seiner Bevölkerung oder der Weite seiner Fläche, sondern vor allem auf seinem Einfluss. Die Völker Indochinas, die Koreaner und Japaner übernahmen Religion und Kultur aus dem Reich der Mitte, sogar die Architektur inspirierte sich an chinesischen Vorbildern. Das ist der Grund, warum der Europäer glaubt, eine „ostasiatische Kultur“ ausmachen zu können; ähnlich wie die Chinesen noch lange Zeit Europa als Daqin bezeichneten: Rom!

Umso begreiflicher dürfte es werden, wie wenig von unserer eigenen europäischen Identität – ob regional, national oder zivilisatorisch – bleibt, wenn wir uns vom römisch-griechischen und christlichen Erbe entfernen. Je größer die Distanz zu diesem Erbe wird, umso weniger Europäer wird man. Eigentlich – so muss man feststellen – wird man gar nichts. Am Ende bleibt der pure Relativismus. Richard Strauss meinte einmal, dass eine Person, die Homer nicht gelesen habe, kein Mensch sei.

In diesem Augenblick erklärt ein Blick in das EU-Parlament, wie wenig Europäer eigentlich dort drinnen versammelt sind, als vielmehr die Anhänger einer EU-Ideologie; und gespielt erschrocken stellt man fest, dass die EU tatsächlich das Gegenteil von Europa ist.

Kommen wir zurück zum weichen Imperialismus. Nach einem jahrzehntelangen Konflikt, der durchaus mit dem von Rom und Karthago vergleichbar ist, und in der zwei Reiche ihre jeweilige Vorherrschaft auf der Welt als Einflusszonen absteckten, glaubt sich die USA als Hegemon. Wie oben gezeigt, macht es das aber nicht automatisch zur Weltmacht, bevor nicht der Osten ebenfalls dazugehört (ja, wortwörtlich!). Die Amerikanisierung hat dabei in Deutschland solche Ausmaße angenommen, dass man wohl halber Italiener sein muss, um sie wirklich zu begreifen.

Es mutet vielleicht bieder an, aber wenn man selbst nicht mehr zum Geburtstag „Zum Geburtstag viel Glück“, sondern lieber „Happy Birthday to you!“ singt, dann kommt man ins Nachdenken. Ein Italiener würde das allein wegen der miserablen Englischkenntnisse nicht hinbekommen. Das mag man als Ignoranz verstehen, ist es vermutlich auch. Aber auch ignoranter, unbewusster Widerstand, bleibt Widerstand.

Ich habe in einem anderen Beitrag, Beim Schneiden der Tomaten, bereits aufgezeigt, wie sehr die Esskultur Teil an unserern wirklichen Kultur hat. Gerade Deutschland – wo Essen als Zweck, als Effizienz, als unwichtiges Intermezzo angesehen wird – ist hier sehr empfänglich. Der Wert des Essens wird nicht wahrgenommen – wo wir doch im besten Falle dreimal täglich dieses Ritual begehen. Welches alltägliche Ritual im Leben vollführen wir sonst dreimal am Tag? Womöglich nur das Gebet, wenn man fromm ist (und damit geht es ja erst recht zurück).

Das heißt: wir sind nicht nur das, was wir essen; vielmehr existiert ein kaum so unscheinbarer Prozess, der uns mehr prägt als dieser, und das völlig unterbewusst.

Das Essen ist jedoch den Anhängern der romanischen Kultur heilig, allen voran dem Italiener. Bis heute kann man zu geringem Preis immer noch formidabel speisen. Und jedweder Kulturimperialismus aus Amerikanien beißt sich hier die Zähne aus.

Der einsamste McDonalds der Welt steht im Gaumenparadies Mantua: direkt am zentralen Platz der Stadt in bester Lage, eingerahmt von vollbesetzten Gaststätten, wartet dort eine einzelne Bedienung gelangweilt an der Kasse – hoffnungslos.

Insofern kann mich die Nachricht, dass Starbucks es nicht schafft, in Italien Fuß zu fassen, nicht verwundern. Eher muss man sich fragen, wie entfernt vom Leben einige Leute sein müssen, sich diese Frage zu stellen. In Italien bekommt man an jeder Ecke Kaffee auf höchstem Niveau, und wenn jemand mehr als 2 Euro verlangt, ist das Gesprächs- und Aufregerthema. Danach ist der Laden verbrannt, zumindest für das Gros der Kundschaft (Touristen kann man ja immer abzocken).

In Italien existieren – wie einst in allen europäischen Ländern – kleine und mittlere Unternehmen, welche die Hauptlast tragen. Das ist bei diesem Geschäftszweig nicht anders. Und wer Italiener mal in der Bar beobachtet, der weiß, dass jeder, wirklich jeder, eine Sonderbestellung hat. Jeder will seinen Kaffee individuell gestaltet. Zumindest der echte Italiener. Ich war nie in einem Starbucks-Laden, aber spätestens an dieser Anarchie würden die meisten Bedienungen schon verzweifeln, wenn sie die vielen Bestellungen aufnehmen müssen. Bruno Bozzetto, der Erfinder von „Signore Rossi“, hat es mal passend auf den Punkt gebracht.

Geradezu lächerlich wirkt dann das Argument, dass Italien bisher keine eigene, internationale Kette aufgebaut hätte, weil die Bedienung klauen würde. Italien eben. Aber jetzt mal ernsthaft: eine internationale italienische Kaffeehauskette würde doch im Ausland operieren. Heißt, gerade eine italienische Kaffeehauskette wäre im Ausland effizienter als daheim. Logik? Sam, bitte übernehmen Sie.

Vielmehr hört man doch da den Vorwurf raus, Italien sei es sowieso nicht wert, erobert zu werden. Das Argument kennen wir ja noch aus dem alten Rom…

Marco Fausto Gallina studierte Politik- und Geschichtswissenschaften in Verona und Bonn. Geboren am Gardasee, sozialisiert im Rheinland, sucht der Historiker das Zeitlose im Zeitgeistigen und findet es nicht nur in der Malerei oder Musik, sondern auch in der traditionellen italienischen Küche. Katholische Identität und europäische Ästhetik hängen für ihn dabei unzertrennlich zusammen. Unter den Schwingen des venezianischen Markuslöwen betreibt er seit 2013 sein Diarium, den Löwenblog.

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Die große Seeschlacht von Lepanto https://www.thecathwalk.de/2016/10/07/die-grosse-seeschlacht-von-lepanto/?pk_campaign=feed&pk_kwd=die-grosse-seeschlacht-von-lepanto https://www.thecathwalk.de/2016/10/07/die-grosse-seeschlacht-von-lepanto/?pk_campaign=feed&pk_kwd=die-grosse-seeschlacht-von-lepanto#comments Fri, 07 Oct 2016 11:01:11 +0000 http://thecathwalk.de/?p=8095 Am 7. Oktober jährt sich die Schlacht von Lepanto zum 445. Mal. Eine Geschichte von gehäuteten Festungskommandanten, christlicher Revanche, einem einarmigen Dichter und dem Beginn des Rosenkranzfestes. Elf zehrende Monate lastet die Belagerung auf der Festungsstadt Famagusta auf Zypern. Das Banner des Markuslöwen hängt in roten Fransen über den Zinnen. Seit dem September 1570 belagern […]

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Am 7. Oktober jährt sich die Schlacht von Lepanto zum 445. Mal. Eine Geschichte von gehäuteten Festungskommandanten, christlicher Revanche, einem einarmigen Dichter und dem Beginn des Rosenkranzfestes.

Elf zehrende Monate lastet die Belagerung auf der Festungsstadt Famagusta auf Zypern. Das Banner des Markuslöwen hängt in roten Fransen über den Zinnen. Seit dem September 1570 belagern die Osmanen die letzte Stadt, die von der venezianischen Herrschaft auf Zypern übriggeblieben ist. Mitten im Frieden hatten die Türken die größte venezianische Kolonie des Mittelmeers überfallen; die Hauptstadt Nikosia fiel Plünderung und Zerstörung anheim. Zwanzigtausend Menschen sollen beim türkischen Blutrausch ihr Leben verloren haben. Ein Grund dafür, warum viele der venezianischen Festungen, welche zu den größten und modernsten des Mittelmeerraumes gehören, den Invasoren Tür und Tor geöffnet haben. Niemand will ein zweites Massaker riskieren.

Einzig Famagusta hält aus. Marcantonio Bragadin, der Festungskommandant, gilt im Abendland bereits als Held. Seine 8.000 Männer haben bereits fünf Sturmversuche der Osmanen zurückgeworfen. Nur wenige Jahre nach der Belagerung von Malta ist es wieder eine massiv überlegene Streitmacht der Osmanen, die an einer christlichen Bastion abprallt. Famagusta verfügt über einen geschützten Hafen, venezianische Schiffe versorgen die Stadt über Monate.

Und es gibt Hoffnung: denn der Doge steht in Verhandlungen mit dem Papst, der eine Heilige Liga ins Leben rufen will. Die größte Flotte, welche die Christenheit je gesehen hat, soll Famagusta und Zypern retten. Das Arsenal in Venedig, das mit seinen vorbereiteten Schiffsmodulen im Tagestakt Galeeren zusammensetzen und zu Wasser lassen kann, arbeitet seit Monaten unaufhörlich. Und Gerüchten zufolge soll Spanien dem Bündnis beitreten – zusammen mit seiner legendären Armada, die den Korsaren der Barbareskenküste in Nordafrika bereits das Fürchten gelehrt hat.

Aber anders als Malta erwartet Famagusta kein glückliches Ende. Im August 1571 geht den Belagerten die Munition aus. Die Osmanen haben unterirdische Tunnel in das Erdreich getrieben und zerstören die Fundamente der Festungswälle. Pausenlos feuern die türkischen Kanonen neue Salven und setzen Bragadin unter Druck. Der venezianische Kommandant steht vor der Entscheidung: standhalten, und das Leben seiner Männer opfern, die sich so erbittert verteidigt haben; oder die Kapitulation anbieten und um freies Geleit bitten. Bragadin entscheidet sich für Letzteres. Denn die Konditionen erscheinen günstig: der osmanische General Lala Kara Mustafa Pasha hat bereits über 30.000 Soldaten an den Mauern verloren, und erscheint verhandlungsbereit. Die Türken machen ein großzügiges Angebot: Bragadin und seine Männer dürfen mit ihrer Standarte hoch erhoben abziehen.

Doch für den Venezianer gibt es ein böses Erwachen. Kaum besetzen die Türken die Stellungen, sind die Versprechungen null und nichtig. Bei der Übergabezeremonie zieht Mustafa seinen Dolch, attackiert Bragadin und schneidet ihm ein Ohr ab – und beordert seine Soldaten, ihm auch das andere Ohr und die Nase abzuschneiden. Die Osmanen töten darauf den Gouverneur Baglioni, und beginnen mit dem Massaker an der christlichen Bevölkerung.

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Die Sieger von Lepanto: Don Juan de Austria, Marcantonio Colonna und Sebastiano Venier. Bild: Anonym [Public domain]

Bragadin wird vor den siegreichen osmanischen Truppen vorgeführt. Dreizehn Tage wird er im Kerker seiner eigenen Festung gefoltert. Seine Peiniger bieten ihm den Übertritt zum Islam an, um die Marter zu beenden, doch der Venezianer wehrt sich immer und immer wieder. Man bürdet ihm Steine auf und zieht ihn damit um die Stadtmauern Famagustas. Zwei Wochen nach dem Fall der Stadt lässt man ihn vor johlendem Publikum am lebendigen Leib häuten und vierteilen. Noch nach seinem Martyrium macht man sich über ihn lustig, füllt seine Haut mit Heu, zieht ihm eine Uniform an und setzt den makaber entstellten Leichnam auf einen Ochsen, den man durch die Straßen paradiert. Am Ende werden die sterblichen Überreste als Trophäenstücke bei den Soldaten verteilt, die Haut Bragadins geht an den Sultan von Konstantinopel.

Den christlichen Mächten bleiben diese Horrorgeschichten nicht verborgen. Endlich findet die Liga zusammen – zu spät für Zypern, zu spät für Famagusta und zu spät für Bragadin. In Messina kommt es zum Rendezvous der Seemächte, angeführt von Spanien, Venedig und dem Kirchenstaat. Oberkommandant des Verbandes ist Don Juan de Austria, der spanische Flottenführer – ein unehelicher Sohn Kaiser Karls V., nur 24 Jahre alt. Seine Flanken schützen der venezianische General-Kapitän Sebastiano Venier und der Römer Marcantonio Colonna.

Neben diesen drei Hauptmächten nehmen die Republik Genua, das Großherzogtum Toskana, das Herzogtum Savoyen, das Herzogtum Urbino und der Malteserorden mit ihren Schiffsverbänden teil; weitere italienische Staaten, wie die kleine Republik Lucca, sind nicht mit Schiffen zugegen, unterstützen die Sache der Liga aber finanziell mit Material und Männern. Obwohl das Heilige Römische Reich offiziell nicht Kombattant ist, sind auf den Schiffen der Heiligen Liga auch deutsche Soldaten zugegen.

Letztere sind auch dringend notwendig. Die Liga verfügt über 212 Schiffe, darauf fallen allein 115 auf Venedig (zum Vergleich: Spanien schickte 49, Genua 27 und der Papst 7 Schiffe). Die venezianische Schiffswerft arbeitete auf Hochtouren, doch die Republik hat nicht genügend Männer, um alle Galeeren mit Soldaten zu besetzen. Es sind daher insbesondere Männer aus den Teilen des spanisch-österreichischen Imperiums, welche die Besatzungen auch bei den Venezianern vervollständigen. Neben den 40.000 Seemännern verstärken daher mehr als 28.000 zusätzliche Soldaten die Liga, die im habsburgischen Sold stehen. Während die meisten Ruderer Gefangene sind, handelt es sich bei den Venezianern auch um freie Bürger, die sich selbst verteidigen. Das christliche Heer umfasst also knapp 70.000 Männer – eine schwindelerregende Zahl, die bei Landschlachten kaum erreicht wird.

Die christliche Geheimwaffe sind jedoch sechs venezianische Schiffe, die in ihren Dimensionen alle anderen Galeeren in den Schatten stellen. Diese Galeassen erscheinen Freund wie Feind als schwimmende, hölzerne Ungetüme. Über fünfhundert Ruderer treiben jede dieser Riesengaleeren an. Ihre überwältigende Feuerkraft ist jedem anderen Schiff überlegen. Der tödlichste Trick: die Galeasse kann mit ihren Bug- und Heckkanonen in jede Richtung schießen.

Am 7. Oktober treffen die Christen auf die muslimische Flotte bei Lepanto. Vor den Kampfhandlungen beten die 70.000 Ruderer und Soldaten. In den Städten der Christenheit betet man zur selben Zeit den Rosenkranz, um die Gottesmutter Maria um den Sieg zu bitten. Papst Pius V. hatte zu diesem Zweck die Standarte mit dem Kruzifix und den Heiligen Petrus und Paulus gesegnet, auf dem das alte Motto „In Hoc Signo Vinces“ eingestickt war. Auf dem Flaggschiff der Liga, der „Real“ des Don Juan de Austria, prangte zudem die Gottesmutter mit der Aufschrift „S. Maria succurre miseris“. Der Kommandant dagegen belässt es bei großen Reden und erinnert seine Mannschaft lakonisch daran, dass das Paradies nicht für Feiglinge gemacht sei.

Den 212 Schiffen stellt sich eine Wand aus Segeln, Rudern und grünen Bannern entgegen; der ganze Horizont wird von der türkischen Armada eingenommen. Von Material und Mannstärke sind die Osmanen überlegen: die feindliche Marine kommt auf über 250 Schiffe und umfasst mindestens 10.000 Männer mehr. Doch Sufi Ali Pasha, der schon an den Sieg glaubt, rechnet nicht mit der Zerstörungsgewalt der Galeassen, welche dem christlichen Flottenverband vorausfahren, und mit ihrem Rundumfeuer Breschen in den osmanischen Mastenwald schlagen.

Die erhöhte Reling macht es den Türken zuerst unmöglich, diese überhaupt zu entern. Der Einsatz Don Juan de Austrias, der auf seinem Flaggschiff persönlich die Auseinandersetzung sucht, kommt für die Türken ebenso unvorbereitet; und zuletzt sind es die osmanischen Bogenschützen, die im Angesicht der spanischen Arkebusen und Musketen den Kürzeren ziehen. Die überlegene Feuerkraft der Christen macht die quantitative Überlegenheit der Osmanen wett.

Lepanto geht nicht nur als größte Galeerenschlacht der Menschheitsgeschichte ein. Sie ist eine Probe von Mensch und Material, wie sie die Weltgeschichte nur selten kennt. Über Hunderttausend Menschen sind in dem Blutmeer verwickelt. Auf christlicher wie muslimischer Seite kämpfen Veteranen aus jahrzehntelangen Konflikten zwischen den Seemächten beiderseits der Mittelmeerküste. Miguel Cervantes, der berühmte spanische Dichter, der mit seinem Don Quijote später Weltruhm erlangen wird, nimmt an Bord der Marquesa an der Schlacht teil und weiß, dass an diesem Tage Weltgeschichte geschrieben wird. Eine Verletzung am linken Arm führt dazu, dass seine linke Hand dauerhaft gelähmt bleibt.

Der Tag wird zur dunkelsten Stunde der osmanischen Marine. Die Christen erbeuten 137 osmanische Schiffe und befreien annähernd 15.000 christliche Sklaven, die auf diesen ihren Galeerendienst versahen; Größenordnungen einer Stadt wie Augsburg in der damaligen Zeit. Weitere 50 Schiffe werden versenkt. Etwa 20.000 Osmanen finden den Tod. Die Christen verlieren nur 17 Schiffe und etwa 8.000 Mann.

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Die Schacht von Lepanto, Paolo Veronese

Obwohl Venedig den glänzendsten Sieg seiner Geschichte verbucht, kann die Republik keinen Vorteil daraus ziehen. Als die Venezianer vor dem Sultan vorstellig werden und Zypern zurückfordern, entgegnet ihnen der muslimische Herrscher: „Als wir euch Zypern nahmen, haben wir euch einen Arm abgeschlagen; als ihr uns bei Lepanto besiegt habt, habt ihr unseren Bart abgeschnitten. Der Bart wächst nach, der Arm nicht.“ Venedig schließt zwei Jahre später einen erniedrigenden Frieden, die Liga löst sich auf – Zypern bleibt osmanisch.

Obwohl die Liga also kurzfristig keinen Nutzen aus dem überwältigenden Triumph der Christenheit gegen den expandierenden Islam ziehen konnte, war die Sache jedoch deutlich komplexer, als es die Anekdote des Sultans darzustellen vermag. Die Türken verloren bei Lepanto ihre gesamte Marine-Elite: altgediente Korsaren und erfahrene Kommandanten, die unersetzlich für die Flotte waren. Nie wieder sollte eine osmanische Flotte den christlichen Mächten eine Niederlage wie bei Preveza (1538) oder Djerba (1560) erteilen. Auch der Verlust der osmanischen Bogenschützen, die nun für Landeroberungen fehlen, erschienen im Nachhinein als unwiederbringlich.

Zusammen mit der verlorenen Belagerung von Malta (1565) stießen die Osmanen an ihre Grenzen. Bis zur Belagerung von Kreta (1648-1669) gelangen den Türken keine Eroberungen mehr. Die beginnende Vormachtstellung des Westens wurde auch an der steigenden Feuerkraft der europäischen Schiffe deutlich. Dagegen war es mit den großen Eroberungszügen der Osmanen, die noch unter Sultan Süleyman bis Wien vorgestoßen waren, vorerst vorbei. Die Türken, die als „satanische Macht“ als unbezwingbar gegolten hatten, konnte man nun zu Lande und zu Wasser besiegen.

Lepanto war daher nach Wien und Malta das dritte Symbol der Selbstbehauptung Europas gegen die muslimische Expansion. Die Schlacht gewann in Spanien, Venedig und Rom eine ungeheure Bedeutung. Bis heute finden sich Nachfahren jener Adelsfamilien in Rom ein, die bei Lepanto kämpften. In Venedig wird der Schlacht bis heute jedes Jahr gedacht; in der Malerei wurde sie von Veronese und Vicentino verewigt, das Thema von einer ganzen Reihe römischer wie spanischer Künstler immer wieder neu interpretiert – wobei der Sieg auf die Gottesmutter Maria zurückgeführt wurde. Lepanto-Gemälde nahmen bald den Rang ikonographischer Darstellungen ein. Papst Pius V. ordnete die Institutionalisierung des Rosenkranzfestes an, welche der Intervention Mariens in diesem Konflikt gedachte. Legenden besagen gar, die Männer hätten im Schlag der Mysterien des Rosenkranzes gerudert. Neben dem „Türkenläuten“ von Belgrad, ist das Rosenkranzfest damit eine zweite Erinnerung an die Abwehr der osmanischen Bedrohung – bis heute.


Marco Fausto Gallina studierte Politik- und Geschichtswissenschaften in Verona und Bonn. Geboren am Gardasee, sozialisiert im Rheinland, sucht der Historiker das Zeitlose im Zeitgeistigen und findet es nicht nur in der Malerei oder Musik, sondern auch in der traditionellen italienischen Küche. Katholische Identität und europäische Ästhetik hängen für ihn dabei unzertrennlich zusammen. Unter den Schwingen des venezianischen Markuslöwen betreibt er seit 2013 sein Diarium, den Löwenblog.

Der Beitrag Die große Seeschlacht von Lepanto erschien zuerst auf cathwalk.de und wurde von Marco Gallina verfasst.

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Der Veganer https://www.thecathwalk.de/2016/09/01/der-veganer/?pk_campaign=feed&pk_kwd=der-veganer https://www.thecathwalk.de/2016/09/01/der-veganer/?pk_campaign=feed&pk_kwd=der-veganer#respond Thu, 01 Sep 2016 11:28:18 +0000 http://thecathwalk.de/?p=6218 Es war an einem Frühlingstag, irgendwann zwischen Nieselregen und zahmen Mittagssonnenlicht, dass ich auf einer Bank der Bonner Hofgartenwiese saß, und ein nur wenige Minuten zuvor gekauftes Süßmandelrosinenbrot verspeiste. Den Schirm hatte ich noch in der anderen Hand, da das Wetter sich als äußerst wechselhaft erwies, was insbesondere zwei junge Frauen auf der anderen Seite […]

Der Beitrag Der Veganer erschien zuerst auf cathwalk.de und wurde von Marco Gallina verfasst.

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Es war an einem Frühlingstag, irgendwann zwischen Nieselregen und zahmen Mittagssonnenlicht, dass ich auf einer Bank der Bonner Hofgartenwiese saß, und ein nur wenige Minuten zuvor gekauftes Süßmandelrosinenbrot verspeiste. Den Schirm hatte ich noch in der anderen Hand, da das Wetter sich als äußerst wechselhaft erwies, was insbesondere zwei junge Frauen auf der anderen Seite des Parks immer wieder erfahren durften, wenn plötzlich für Sekunden der Eisregen neuerlich ausbrach. Nun könnte der Leser an dieser Stelle mein selten ungentlemanhaftes Verhalten rügen, was so ganz und gar nicht zum Typus des hier Schreibenden passen wollte; allein, bei Studentinnen bin ich mittlerweile der Ansicht, dass, wer auf Gleichberechtigung pocht, auch einen gleichberechtigten Verstand besitzt, und ein solcher bei Regenwetter durchaus einen irgendwie gearteten Regenschutz mitnehmen kann. Doch dergleichen soll hier nicht das Thema sein.

Ich vertrieb mir die Zeit bis zum Mittagessen in dieser halben Stunde, und nach einigen Momenten der feinen Schauer sollte sich erneut die Sonne zeigen. Unbekümmert nahm ich einen weiteren Bissen von der Spezialität aus einer französischen Boulangerie, und klappte das Regenschutzgerät in einer einfachen, stilvollen Bewegung ein, die selbst Italo nicht besser hätte nachahmen können. Überhaupt fühlte sich an diesem Tag vieles nach Belle Époque an, denn ein Mandelbrotessen vor dem Mittagsmahl in einem öffentlichen Park in gut sortierter Kleidung, ohne Jogger oder Taschentelefonbesessene in Reichweite, hat im Nachhinein betrachtet doch weitaus mehr von 19. Jahrhundert, als im damaligen Moment wahrgenommen.

Wie auch immer. Ich hatte den Imbiss gerade beendet, und sah mich nur mit dem größtenteils leeren Park, dem Sonnenschein und der Fassade des Universitätsgebäudes konfrontiert, als ein leises, aber sich näherndes Schlurfen an Bedeutung, fast mag man meinen: an Lautstärke gewann. Da war keine Stärke, keine Penetranz, sondern nur die Präsenz eben jenes Geräusches, das, einfach, weil sein Besitzer existierte, grundsätzlich hatte lauter werden müssen. Da war weder die Eleganz von den Tritten hochhackiger Schuhe italienischer junger Frauen, noch die Standhaftigkeit des alphamännlichen Rammens; keine Sportlichkeit der Turnschuhe von Fitnessfanatikern; keine Lässigkeit vorbeiziehender Studenten. Es war ein so unwichtiges Schlurfen, dass es in seinem Sein schief klang, so, als hallte der Ton nur als Platzhalter, weil er sonst keinerlei Identität gewonnen hatte. Man mag sich an dieser Stelle ausmalen, dass ich des Öfteren irgendwo sitze, und Menschen weniger beobachte, als vielmehr ihren Schrittlaut seziere, um bereits im Voraus zu mutmaßen, welches Geschlecht und welchen Charakter der Besitzer hat. Freilich sind meine Tipps ungenau, und ich bin weit davon entfernt, damit richtig zu liegen, aber das kleine Spiel sei erlaubt – dass ich aber bisher überhaupt nichts festmachen, nichts rätseln konnte, das kam bei mir selten vor.

Da das Schlurfen bald seinen Zenit erreicht hatte, war es ganz und gar unmöglich, nicht wahrzunehmen, wie sich die geisterhafte Gestalt an mir vorbeischleppte. Aus dunkler Kleidung hoben sich das totenhaft-weißliche Gesicht und die Arme hervor, die in diesem Kontrast noch leichenblasser wirkten als sowieso schon. Nicht nur der Schlurfton hörte sich schief an; so verhielt es sich bei der ganzen Haltung, die nach links abdriftete. Obwohl die Szene höchstens fünf Sekunden dauerte, grub sich der Eindruck bei mir so tief ein, wie es die Erscheinung eines Gespenstes nur schaffen konnte: denn die Gestalt war nicht etwa ein gehbehinderter, älterer Herr, sondern ein junger Mann Anfang 20. Auf seinem Rücken hing ein jeansblauer Rucksack mit einem Fuchs schwedischer Marke und ein eingewobener Schriftzug Vegan. Wie der gesamten Erscheinung wohnte dem Rucksack eine zutiefst eigene Form dessen inne, für was die deutsche Sprache einst den Begriff „versifft“ geformt hatte.

Geradezu erstaunlich symbolisch mutete die Szene an, als das Männlein einige Meter entfernt nach einer Trinkpackung im Matsch griff, und diese verantwortungsvoll in einem Papierkorb nahebei entwertete. Danach verschwanden er und das Schlurfen wieder aus Zeit und Bild.

Als jemand, der allein vom Sprachstil derzeit allerlei mit der Epoche des Symbolismus, Ästhetizismus und der Dekadenz spielt – diese Gedächtnisstütze hier ist keine Ausnahme – wirkte das Geschehene höchst denkwürdig. Nicht nur, weil ich mich in einer fleischgewordenen Allegorie der Gegensätze glaubte, mit mir und dem jungen Unbekannten als Antipoden. Nun bin ich in physischer Hinsicht mit Sicherheit nicht das attraktivste Gegenbild; dafür fehlt mir freilich die Muskelmasse. Andererseits ist es ab einer gewissen Körpergröße auch nahezu unumgänglich, dass die Statur eher dünner wird. Auch will ich sicherlich nicht von Hautproblemen beginnen – allein, wenn ich in den Spiegel schaue, kann ich doch sehr wohl zwischen gesundem Teint und kränklichen unterscheiden. Von der geistigen Gegensätzlichkeit werde ich dagegen kaum anfangen müssen.

Ich möchte den Menschen mit Sicherheit nicht verurteilen; allein der allegorische Akt als solcher fasziniert mich zu sehr, als darauf nicht eingehen zu können. Ebenso, wie es mir bei der Meditation von Hayez mit Sicherheit nicht um die entblößte Brust der Italia geht, sondern um den Urgrund dessen, was das Bild aussagt. Denn in einer Zeit der Relativierung glaubte ich den neuen Menschen gesehen zu haben, wie ihn die Ideologie ab jetzt formte. Seinem Gang und seiner Körperverfassung, auch der unauffälligen Kleidung haftete nichts Männliches an; geschlechtsneutral war dieses Wesen, sodass es alle unter den prophetisch angekündigten 60 Geschlechtern annehmen konnte. Gebeugt der Gang, ohne Stolz und ohne Identität, aber eben nicht gebeugt in Nachdenklichkeit sondern in völliger Weltabgewandtheit ohne sich mit der Welt zu beschäftigen; darum bemüht, die Erde und Natur zu erhalten, aber ohne zu begreifen, dass die Kränklichkeit den eigenen Körper zeichnete und damit ganz und gar gegen die eigene Natur handelte; bereit dazu, sich altruistisch herabzubeugen und Müll zu entwerten, ohne ein Bewusstsein dafür, dass das Eigene völlig vernachlässigt erschien.

Selbstaufgabe fängt eben nicht bei Völkern oder Idealen an; sie hört dortselbst auf, nachdem das Individuum bereits entkernt wurde oder sich freiwillig entkernt hat.

Mich beschäftigte diese Szene auch deswegen so sehr, da das brennende Feuer der Jugend, besonders jene der heterosexuellen, weißen, jungen Männer in ihren Zwanzigern die europäische Staatenwelt immer wieder umgestürzt und erneuert hatte. Es war stets das Verlangen nach dem, was man nicht hatte; ein Begehren danach, das Bestehende zu ändern und zu nehmen, was einem zustand – oder von dem man glaubte, dass es einem zustand. Das war jene Euphorie, jenes Sein und jene Passion der Generationen von 1813, von 1848 und auch jene des beginnenden 20. Jahrhunderts, die ihr Ende in den sozialistischen Ideologien fand; selbst die 1968er und 1989er fügen sich in dieses Schema hinein. Hier aber sah ich keinerlei Verlangen, keinerlei Begehren, sondern reine Zurückgezogenheit auf sich selbst, und höchstens eine Karriere als zukünftiger Ernährungstaliban – sollte es denn die Physis erlauben.

Ich erhob mich von der Bank, und beschloss, an diesem Tag ein Steak zu essen.

Marco Fausto Gallina studierte Politik- und Geschichtswissenschaften in Verona und Bonn. Geboren am Gardasee, sozialisiert im Rheinland, sucht der Historiker das Zeitlose im Zeitgeistigen und findet es nicht nur in der Malerei oder Musik, sondern auch in der traditionellen italienischen Küche. Katholische Identität und europäische Ästhetik hängen für ihn dabei unzertrennlich zusammen. Unter den Schwingen des venezianischen Markuslöwen betreibt er seit 2013 sein Diarium, den Löwenblog.

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Beim Kaufen der Agnolotti https://www.thecathwalk.de/2016/08/02/beim-kaufen-der-agnolotti/?pk_campaign=feed&pk_kwd=beim-kaufen-der-agnolotti https://www.thecathwalk.de/2016/08/02/beim-kaufen-der-agnolotti/?pk_campaign=feed&pk_kwd=beim-kaufen-der-agnolotti#comments Tue, 02 Aug 2016 08:47:37 +0000 http://thecathwalk.de/?p=5522 Ich esse, also bin ich. Was Sie schon immer über Agnolotti und die italienische Glockenturmmentalität erfahren wollten, aber niemals zu fragen wagten Agnolotti sind eine durchaus problematische Pastasorte. Diese piemontesische Teigware ist zwischen Ravioli und Tortellini anzusiedeln; sie zeichnet sich durch eine quadratische Form mit gezackten Rändern und einer rundlichen Erhöhung im Zentrum aus, in […]

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Ich esse, also bin ich. Was Sie schon immer über Agnolotti und die italienische Glockenturmmentalität erfahren wollten, aber niemals zu fragen wagten

Agnolotti sind eine durchaus problematische Pastasorte. Diese piemontesische Teigware ist zwischen Ravioli und Tortellini anzusiedeln; sie zeichnet sich durch eine quadratische Form mit gezackten Rändern und einer rundlichen Erhöhung im Zentrum aus, in welcher die jeweilige Füllung ruht. Von verschiedenen Fleischsorten und Pilzen bis hin zu Gemüse kennt der Variantenreichtum keine Grenzen. Dabei existiert neben der Version im Montferrat und in der Langhe des südlichen Piemonts auch noch eine im Südwesten der Lombardei, namentlich in Pavia. Der Begriff „Agnolotto“ soll sich entweder vom lateinischen anellus (Ring) oder einem Koch aus dem Montferrat herleiten.

Um die Wissenschaft abzurunden: die Herstellung von Agnolotti gestaltet sich etwas einfacher als die von Tortellini oder Ravioli. So wird bei der Herstellung ein großer Teigstreifen ausgebreitet, dann mit Füllung bestrichen und ein weiterer darüber geklappt. Anschließend schneidet man aus diesem Teig die einzelnen Agnolotti heraus; Tortellini dagegen fertigt man stattdessen Stück für Stück an, eine Arbeit, welche früher eine gute emilianische Hausfrau auszeichnete und von Können, Beharrlichkeit und Fleiß zeugte.

Und während Ravioli durchaus auch mal mit Fasan oder Tomatensauce angerichtet werden, hat der allgemeine Agnolotto nur das Anrecht auf Butter und Käse, oder schwimmt in einer Suppe; letzteres war noch lange Zeit ein typisches Bauernessen großer Teile Norditaliens. Allgemein wurde dieses Essen als „Pasta in brodo“ bezeichnet, wobei die jeweilige Pasta der regionalen Gepflogenheit entsprach. Jede Region hat bis heute seine Pastasorte, und insbesondere die Älteren würden als Piemontesen keine emilainischen Tortellini, sondern höchstens Agnolotti in der Suppe annehmen.

Wieder einmal ist also das Essen Ausdruck der eigenen Identität. Und im Geburtsland des Campanilismo – jener „Glockenturmmentalität“, die nur bis zu den Grenzen des eigenen Dorfes schaut – gilt diese Unterstreichung umso deutlicher.

Die Einigung Italiens hatte jedoch wenigstens auf dem Schlachtfeld der Küche eine sehr positive Wirkung, da nunmehr eine große Anzahl von Sorten für den ganzen Stiefel verfügbar wurde. Dabei kam es auch zu Vermengungen: traditionell richteten die Norditaliener ihre Pasta nur mit Öl bzw. Butter und Käse an, durch den süditalienischen Einschlag gesellten sich aber auch die scharfen Soßen hinzu.* Wer sich einmal die alten „Don Camillo und Peppone“-Filme anschaut, wird eine Szene des emilianischen Peppone sehen, der im Zusammensein mit seinen Kindern sich Spaghetti in den Mund schaufelt, und diese mit mehr und mehr Käse überträufelt. Tomaten? Fehlanzeige. Auch Pesto blieb lange Zeit nur eine Sache der ligurischen Städte und Dörfer (abgesehen von einigen etwas verschiedenen sizilianischen Varianten).

Während aber die Nationalstaaten stets versuchten, durch Gleichmacherei die regionalen Unterschiede zu tilgen, hat die Küche ihre regionalen Eigenarten bis heute bewahrt und sogar neue Experimente beflügelt. In diesem Sinne bin ich auch kein Norditaliener, sondern „Italianer“; ohne Ressentiments kaufe ich emilianische Tortellini, toskanische Pappardelle und süditalienische Maccheroni. In unserer Gegend existiert meines Wissens nach keine eigene Variante, die als brescianisch geltenden Pastastücke der Casoncelli sind eher Richtung Bergamo verbreitet; überhaupt fällt auf, dass unsere Piatti (= „Teller“) eher fleischhaltig sind, was auf den langen Einfluss Veronas in unserem Gebiet hindeutet. Als Pasta gab’s bei uns dazumal standardmäßig „Tortellini in brodo“ (klassisch mit Parmesan obendrauf, was ich schon damals ausgesprochen unüberzeugend empfand) oder Penne. Penne sind für mich bis heute – noch mehr als Spaghetti – die „Standardpasta“ schlechthin geblieben.

Bei uns gab es dafür Pferd auf dem Tisch. Keine Pferdeköpfe, um Gerüchten an dieser Stelle zuvorzukommen. Auch da: veronesischer Einfluss. Oh, wie schön solche Gruselgeschichten später in der deutschen Grundschule bei den Mädchen ankamen… hehe.
Wenn die gewusst hätten, dass der traditionelle „Piatto“ Brescias aus Fleischspießen und kleinen Vogelköpfen mit Polenta bestand, hätte das wohl noch zu mehr Entsetzen geführt.

Entsinnen möchte man sich bei diesen kulinarischen Gegebenheiten auch der Tradition und Kontinuität, welche die italienische Küche mit den Jahrhunderten der Vergangenheit verbindet; das Wort Maccheroni stammt aus dem Griechischen Makaron, ähnlich der Lasagne, und lässt auf die einstige griechische Kolonisation Unteritaliens in der Antike schließen – wir gehen also hier mindestens bis ins alte Rom zurück! Ähnlich beim genuesischen Pesto, das wohl eine abgewandelte Form des alten römischen Garum ist, einer Paste, welche die Römer in Mengen ihren alten Gerichten hinzufügten.

Auf meine Vaterstadt zurückkommend kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren, dass die Langobarden und Goten womöglich an der merkwürdigen Mischung aus gegrillten Singvögeln und Pferdefleisch nicht völlig unschuldig waren…

Zurück zum eigentlichen Thema, nämlich den Agnolotti. Zuletzt suchte ich das Geschäft meines Vertrauens auf, genauer: Fabrik. Bei mir kommt frische Pasta direkt vom Erzeuger auf den Tisch, ohne Umwege. Der Hersteller hat dabei nicht nur eine sehr große Auswahl, sondern fertigt seine Produkte traditionell mit Bronzepresse an. Nicht handgemacht, aber für einen kleinen Produzenten durchaus ein bewährtes Verfahren. Der Vater des Besitzers hat die Pasta übrigens noch für die eigene Familie per Hand hergestellt.

Und jeder, der mal bei mir zum Essen eingeladen war, wird keine andere Pasta mehr essen wollen.

Normalerweise bedient mich dabei eine Dame mittleren Alters, wenn ich dort ankomme und klingele. Dieses Mal jedoch ein Kerl in meinem Alter.
Dieselben Augen.
Dieselbe Frisur.
Derselbe Bart.

Einzig die Nase weicht physiognomisch ab und geht eher in die toskanisch-semitische Richtung im Gegensatz zu meinem gallisch-cisalpinischen Gesichtserker-Modell.

Man beäugt sich. Nickt sich zu. Denkt sich wohl seinen Teil. Bleibt aber dennoch professionell.

Ich bestelle das Übliche: zwei Packungen Tortellini zu je 500 Gramm. Eine Packung Pappardelle, ebenfalls 500 Gramm. Und Maccheroni. 500 Gramm. Gut gelaunt notiert die Bedienung, und macht sich in den hinteren Bereich auf.

In der Abwesenheit fällt mir das Angebot für den September und Oktober auf. Agnolotti mit Kürbisfüllung (zucca). Eigentlich sind Tortelli di zucca (nicht Agnolotti! So viel Zeit muss sein) die Spezialität Mantuas. Und aus Veroneser Zeiten habe ich nicht das Ritual vergessen, mir sonntags aus Mantua handgemachte Pasta aus der traditionellen, kleinen Pasticceria zu holen.

Mit Butter. Salbei. Und einem Schuss Muskat. Abgerundet mit der Prise Parmesan.

Ferne Zeiten. Und es ist wirklich ein Elend, gute Tortellini zu bekommen; mit Kürbisfüllung noch ein größeres Problem. Dazu habe ich gewisse Zweifel, denn Tortellini sind nun einmal etwas kleiner und besser passend gemacht, als die vergleichsweise großen Agnolotti. Die Kunst bei den Agnolotti besteht daraus, dass der Teig ausreichend gut gekocht werden muss, sodass die Ränder nicht hart sind; andererseits darf die Pasta nie zu durchgekocht sein, weil dann der Kürbis seinen Geschmack einbüßt.

Da geht die Tür auf. Mein Ebenbild mit dem etwas schmaleren Gesicht und längerer Nase kommt zurück, und hat die Bestellung dabei. Jetzt muss ich bedauern: ich hätte noch gerne zwei Packungen von den Agnolotti di zucca. Man lächelt.
Vielleicht, weil die Mehrzahl der Kundschaft „Agnolotti“ (Anjolotti) nicht einmal richtig aussprechen kann.

Spätestens ab diesem Punkt erscheint die wichtigste Frage – neben der korrekten Zubereitung und deren Herausforderung – in meinem Kopf: ist der Kerl Lombarde? Und wenn ja, hoffentlich nicht aus Mailand. Nein, dafür wirkt er zu „provinziell“ (was in meinen Worten ein Kompliment ist, im Gegensatz zur allgemeine pejorativen Verwendung dieses Wortes).

Und zwangsläufig merken wir natürlich beide, dass jeder sich die Frage stellt, man es aber aus Höflichkeit vermutlich nicht wagt. Es kommen ja doch viele Leute vorbei. Aber, da ist diese Spannung in der Luft.

Die Agnolotti sind da. Ich bezahle. Man ist freundlich zueinander. Das Thema wird immer noch ausgeklammert, obwohl es sichtlich uns beiden unter den Nägeln brennt. Dennoch, ich wende mich um, und aktiviere dann völlig überraschend den Geheimcode.

»Arrivederci.«

Rumms. Der Damm bricht. Noch auf der Treppe hält er ein, dreht sich von oben herum, und meint »Sapevo che’ri Italiano!« (»Ich wusste, dass du Italiener bist!«)

Ich bleibe in meiner Vatersprache: »Natürlich bin ich Italiener, und natürlich wusste ich, dass du einer bist. Schau dir mein Gesicht, schau dir deines an!«

»Woher kommst du?«

»Brescia!«

»Catania!«

Und schon redet man natürlich nur in Italienisch, fuchtelt mit den Händen rum, tauscht sich über Belanglosigkeiten aus, die für unsere Nation die Frage auf Leben und Tod darstellen (»Ballotelli oder Pirlo?«) und fühlt sich sofort zusammengehörig.
Ganz plötzlich.

Aber Herkunft hat ja – wie mich die Medien tagtäglich belehren – so gar keine Bedeutung…

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*Zudem ein verstärkter Gebrauch von Olivenöl, der bis dahin nur in einigen exklusiven Gebieten verbreitet war (so am Gardasee).

Marco Fausto Gallina studierte Politik- und Geschichtswissenschaften in Verona und Bonn. Geboren am Gardasee, sozialisiert im Rheinland, sucht der Historiker das Zeitlose im Zeitgeistigen und findet es nicht nur in der Malerei oder Musik, sondern auch in der traditionellen italienischen Küche. Katholische Identität und europäische Ästhetik hängen für ihn dabei unzertrennlich zusammen. Unter den Schwingen des venezianischen Markuslöwen betreibt er seit 2013 sein Diarium, den Löwenblog.

Der Beitrag Beim Kaufen der Agnolotti erschien zuerst auf cathwalk.de und wurde von Marco Gallina verfasst.

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Die Welt ist keine Scheibe – sondern ein Kunstwerk https://www.thecathwalk.de/2016/06/20/die-welt-ist-keine-scheibe-sondern-ein-kunstwerk/?pk_campaign=feed&pk_kwd=die-welt-ist-keine-scheibe-sondern-ein-kunstwerk https://www.thecathwalk.de/2016/06/20/die-welt-ist-keine-scheibe-sondern-ein-kunstwerk/?pk_campaign=feed&pk_kwd=die-welt-ist-keine-scheibe-sondern-ein-kunstwerk#respond Mon, 20 Jun 2016 06:48:27 +0000 http://thecathwalk.de/?p=5129 Einer der verbreitetsten historischen Irrtümer handelt von der Vorstellung, die Menschen des Mittelalters hätten an eine Erde in Scheibenform geglaubt. Oder in der noch extremeren Variante: die Kirche hätte eine solche gelehrt. Letzteres ist schon allein deswegen verfehlt, weil die mittelalterliche Scholastik sich weiterhin auf Aristoteles bezog. Der lehrte die Kugelgestalt der Welt; ein Konzept, […]

Der Beitrag Die Welt ist keine Scheibe – sondern ein Kunstwerk erschien zuerst auf cathwalk.de und wurde von Marco Gallina verfasst.

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Einer der verbreitetsten historischen Irrtümer handelt von der Vorstellung, die Menschen des Mittelalters hätten an eine Erde in Scheibenform geglaubt. Oder in der noch extremeren Variante: die Kirche hätte eine solche gelehrt. Letzteres ist schon allein deswegen verfehlt, weil die mittelalterliche Scholastik sich weiterhin auf Aristoteles bezog. Der lehrte die Kugelgestalt der Welt; ein Konzept, das u. a. Thomas von Aquin zitierte.

Auch außerhalb der kirchlichen Lehranstalten war diese Vorstellung üblich. In Dantes Göttlicher Komödie reisen der Dichter und sein Führer Vergil durch die Hölle quer durch die Erde, bis sie auf der anderen Seite wieder hervorkommen, wo sich der Läuterungsberg befindet. Dass es sich dabei nicht um einen Erdteller handeln kann, bezeugt einer der Höllengesänge, nämlich der des Odysseus; dieser hatte den Läuterungsberg bereits auf einem fremden Kontinent entdeckt. Gemäß dem Fall, dass Odysseus nicht über den Scheibenrand gefallen sein kann, spricht dies für eine Kugelgestalt, die Dante dem Leser gar nicht erklären muss. Ähnlich macht auch Marco Polo nirgendwo in seinem Reisebericht Andeutungen, Angst davor zu haben, über den Rand der Scheibe zu fallen. Der Reichsapfel der mittelalterlichen Kaiser ist das wichtigste politische Zeichen, das von einem Erdenglobus kündet.

Christoph Kolumbus bewies also in der Tat nicht den Charakter der runden Welt, sondern baute vielmehr auf der Vorarbeit früherer Gelehrter auf. Im 15. Jahrhundert galt es nicht etwa deswegen als gefährlich, von Spanien gen Westen nach Indien zu reisen, weil man an eine Scheibe glaubte – sondern weil findige italienische und portugiesische Kartographen den Erdumfang bestimmt hatten, und von einem riesigen Meer ausgingen, das zwischen Europa und Asien liegen müsse. Ironischerweise wurde den Portugiesen damit ihr nautisches und kartographisches Wissen sogar zum Verhängnis, weil sie ihrem König vorberechneten, dass Kolumbus‘ Reise ein Himmelfahrtskommando sein müsse. Der Genuese suchte daraufhin bei den Spaniern sein Glück. Der Rest ist bekannt.

Just 1492, also im Jahr der Entdeckung Amerikas, fertigte Martin Behaim seinen Erdapfel an. Freilich haperte es bei diesem an der Genauigkeit, und auch der Erdumfang entsprach nicht den Verhältnissen, die andere postulierten; für einen Neuen Kontinent wäre auf diesem Globus kein Platz gewesen. Stattdessen finden sich eine Vielzahl von unbekannten Eilanden zwischen Europa und Asien. In vielerlei Hinsicht kommt die Darstellung nicht über das hinaus, was der Venezianer Fra‘ Mauro bereits ein halbes Jahrhundert zuvor als einfache Karte verewigt hatte. Im Übrigen für damalige Zeiten in der Darstellung durchaus nicht völlig inakkurat:

Mit jenem Zeitalter der Entdeckungen, das ab der Renaissance an Bedeutung gewann, war Behaims Globus dennoch das Symbol einer ästhetischen wie wissenschaftlichen Revolution. Globen bezeugten Herrschaft, Gelehrsamkeit und Kunst. So ist die Vielzahl anschaulicher Exemplare zu bewundern, die in Klöstern, an Fürstenhöfen und Universitäten zu bestaunen waren und noch heute sind:

Behaims Erdapfel war aber – entgegen dem Mythos – nicht der erste Globus. Den hatte Papst Sixtus IV. in Auftrag gegeben; etwa zwei Jahrzehnte nach Fra‘ Mauro, aber ebenso zwei Jahrzehnte vor Behaim und Kolumbus. Leider ging dieser erste Globus der Frühen Neuzeit vermutlich beim Sacco di Roma (1527) in Flammen auf. Wie wir aber den Vatikan kennen, wurde dort akribisch alles aufgezeichnet, was sich ereignete. Bis heute zeugt die Rechnung von der Lieferung des verlorenen Kunstwerks.

Es war also gerade die böse Papistenkirche, die wie keine andere die Schönheit der Welt als Kugel zur Schau stellte. Aber erzählen Sie das mal weiter…

Marco Fausto Gallina studierte Politik- und Geschichtswissenschaften in Verona und Bonn. Geboren am Gardasee, sozialisiert im Rheinland, sucht der Historiker das Zeitlose im Zeitgeistigen und findet es nicht nur in der Malerei oder Musik, sondern auch in der traditionellen italienischen Küche. Katholische Identität und europäische Ästhetik hängen für ihn dabei unzertrennlich zusammen. Unter den Schwingen des venezianischen Markuslöwen betreibt er seit 2013 sein Diarium, den Löwenblog.

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Beethovens Credo https://www.thecathwalk.de/2016/06/16/beethovens-credo/?pk_campaign=feed&pk_kwd=beethovens-credo https://www.thecathwalk.de/2016/06/16/beethovens-credo/?pk_campaign=feed&pk_kwd=beethovens-credo#respond Thu, 16 Jun 2016 13:58:32 +0000 http://thecathwalk.de/?p=5122 Ludwig van Beethovens Verhältnis zur Religion ist ein endloses Thema. Gesichert ist: der Komponist stand der Amtskirche äußerst skeptisch gegenüber. Kirchgänge sind so gut wie keine verbürgt. Eine Anekdote erzählt, noch auf seinem Sterbebett hätte Beethoven nach Erhalt des Sterbesakraments ironisch applaudiert – und verwies damit auf Kaiser Augustus‘ berühmtes „Plaudite amici, comedia finita est!“ […]

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Ludwig van Beethovens Verhältnis zur Religion ist ein endloses Thema. Gesichert ist: der Komponist stand der Amtskirche äußerst skeptisch gegenüber. Kirchgänge sind so gut wie keine verbürgt. Eine Anekdote erzählt, noch auf seinem Sterbebett hätte Beethoven nach Erhalt des Sterbesakraments ironisch applaudiert – und verwies damit auf Kaiser Augustus‘ berühmtes „Plaudite amici, comedia finita est!“ Mittlerweile konnte diese Erzählung zwar widerlegt werden,* aber sie entspricht dem Bild, das bezüglich des Meisters der großen europäischen Sinfonien kursierte. Josef Haydn, praktizierender Katholik und eifriger Rosenkranzbeter sollte seinen talentiertesten Schüler gar einen „Atheisten“ schimpfen.

Der maßgebliche Punkt bei Beethovens Ansichten ist sein von aufgeklärten und demokratischen Idealen geprägtes Weltbild. Weniger die Kirche als solche, als prinzipiell jede Art von Autorität waren ihm zuwider – seine adligen Gönner und Bekannten hatten darunter im Übrigen weitaus mehr zu leiden als der Klerus. Gleichzeitig hatten Fürsten wie Bischöfe aber keinerlei Berührungsängste mit dem Freigeist; Künstlerfreiheit war damals noch ein unausgesprochenes Privileg, das man (noch) nicht wegen falscher politischer Gesinnung verlor. Für grandiose Musik nahm man auch die eine oder andere Marotte in Kauf.

Eines dieser Auftragswerke war die Messe in C-Dur, die nach der – später erschienen – Missa Solemnis als Beethovens wichtigstes sakrales Musikwerk gilt. In ihr atmet noch ganz Haydns Geist; und man mag meinen, auch dessen christliches Weltbild. Von angeblichen atheistischen Strömungen, naturgeistiger Auffassung – wie sie um 1800 unter Philosophen weit verbreitet war – oder gar protestantischen Gesinnungen, wie sie Beethoven in seiner Gottesbeziehung unterstellt wurden, hört man in dieser wenig heraus. Besonders das Credo, also der Dreh- und Angelpunkt des christlichen Gottesbekenntnisses, sticht dabei heraus;

Es existiert nicht nur der „eine Beethoven“. Da ist noch ein zweiter, neben dem rabiaten Radikalen, der alle Adligen aufknüpfen wollte; eine zutiefst spirituelle Seele, der die Schöpfung auf seinen Waldspaziergängen bewunderte und der in just jenen Jahren erfahren musste, dass er bald völlig ertauben sollte. Noch 5 Jahre vor der Messe in C-Dur hatte der Bonner Komponist mit Selbstmordgedanken gespielt, sein Schicksal als Martyrium begriffen. Der „Allmächtige“ tritt seitdem in seinen Briefen häufiger auf. Auch das ist für viele ein Beleg, dass Beethoven nur „Deist“ war.

Natürlich: da klingt zwischen dem glorreichen patrem omnipotentem auch eine feine Ironie durch, wenn mehrmals genitum wiederholt wird, und mit einer kleinen Pause ein non factum folgt, so, als nähme der Meister den gesamten Streit zwischen Arianern und Trinitariern auf. Aber wer mag nicht beim dunklen Adagio, begleitet vom klagenden passus an den schmerzhaften Weg der Via Dolorosa denken? Und geht es in seinem Ton nicht bis in die Tiefen der Hölle hinein? Kann man dergleichen als gottesfernen Mensch in solcher Erhabenheit komponieren, ohne selbst davon angetan zu sein?

Kommt im gewaltigen, triumphalen resurrexit, das mit seinen musikalischen Schwingungen des ascendit bis zu den himmlischen Höhen auf(er)steht, wirklich Beethovens Ansicht durch, Jesus sei nur ein gekreuzigter Jude gewesen, wie ihm nachgesagt wird? Soll das wirklich die Interpretation sein? Oder ist es nicht eher so, dass Beethoven, der mit seiner Ertaubung das schlimmste Leid eines Musikers erfahren durfte – gerade dadurch Zugang zum Martyrium Christi fand, und ebenso an eine eigene Erlösung glaubte?

Vielleicht war Beethoven kein Katholik. Das mag man anhand eines einzelnen musikalischen Stücks nicht bewerten wollen. Aber sein Credo ist in all seiner Pracht, seiner schöpfungsbejahenden Größe und seinen wallenden Klangkörpern zutiefst katholisch; es ist das tongeborene „Ja!“ zum Glaubensbekenntnis und schreit: Amen, Amen, Amen!

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*In der Tat waren Beethovens letzte Worte „Schade, schade – zu spät, leider zu spät!“, womit er sich auf die Weinlieferung des Tages bezog, die er aufgrund seines Ablebens verpassen würde. Im Übrigen eine Angelegenheit, die den Rheinländer deutlich sympathischer macht als das erfundene Ende.

Marco Fausto Gallina studierte Politik- und Geschichtswissenschaften in Verona und Bonn. Geboren am Gardasee, sozialisiert im Rheinland, sucht der Historiker das Zeitlose im Zeitgeistigen und findet es nicht nur in der Malerei oder Musik, sondern auch in der traditionellen italienischen Küche. Katholische Identität und europäische Ästhetik hängen für ihn dabei unzertrennlich zusammen. Unter den Schwingen des venezianischen Markuslöwen betreibt er seit 2013 sein Diarium, den Löwenblog.

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Wo antike Wurzeln und christlicher Glaube Arm in Arm gehen, atmet die europäische Geistesgeschichte https://www.thecathwalk.de/2016/06/06/reue-umkehr-und-busse-bei-dante-alighieri/?pk_campaign=feed&pk_kwd=reue-umkehr-und-busse-bei-dante-alighieri https://www.thecathwalk.de/2016/06/06/reue-umkehr-und-busse-bei-dante-alighieri/?pk_campaign=feed&pk_kwd=reue-umkehr-und-busse-bei-dante-alighieri#comments Mon, 06 Jun 2016 05:30:28 +0000 http://thecathwalk.de/?p=5015 Nel mezzo del cammin di nostra vita – Umkehr und Buße bei Dante Alighieri  Die Göttliche Komödie von Dante Alighieri ist der Beginn eines der größten Epen Europas. Dennoch erscheint Dante nicht als Held, sondern als Sünder – und damit als Mensch. Aus dem Dreiklang von Reue, Umkehr und Buße zieht der erste Gesang des Meisters der […]

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Nel mezzo del cammin di nostra vita – Umkehr und Buße bei Dante Alighieri 

Die Göttliche Komödie von Dante Alighieri ist der Beginn eines der größten Epen Europas. Dennoch erscheint Dante nicht als Held, sondern als Sünder – und damit als Mensch. Aus dem Dreiklang von Reue, Umkehr und Buße zieht der erste Gesang des Meisters der italienischen Poesie bis heute seine Aktualität.

»Nel mezzo del cammin di nostra vita

mi ritrovai per una selva oscura,

ché la diritta via era smarrita.«

»Auf halbem Weg des Menschenlebens fand

Ich mich in einen finstern Wald verschlagen,

Weil ich vom graden Weg mich abgewandt.«

(Übersetzung nach Streckfuß 1876)

Auch wer Dante Alighieri und seine Divina Commedia nicht kennt; wer keine Ahnung von mittelalterlicher Poesie hat; und selbst wer kein Wort Italienisch spricht – dürfte allein vom Ton der epochalen Sprache dieses größten Werkes italienischer Poesie aus dem Munde Vittorio Gassmans her erkennen, dass es sich bei Dantes Schaffen um Großes handelt, was die Völker und Seelen dieser Welt bewegt. Bereits der Klang von Gassmans Stimme, verbunden mit der Dichtkunst des „Poeta“ lässt uns erahnen: hier spricht nicht der Zeitgeist von 140 Zeichen, sondern die geistige Tiefe von dreizehn Jahrhunderten.

„Nel mezzo del cammin di nostra vita“, der erste Vers von Dantes Göttlicher Komödie, gilt bis heute in Italien als geflügeltes und vertrautes Wort, so wie manche Wendung aus Goethes Faust im Deutschen Fuß gefasst hat. In Zeiten, in denen Lehrinstitute noch nicht auf den Erwerb von Kompetenzen, sondern klassische Bildung gerichtet waren, hatten Schüler einst die erste Canzone noch auswendig lernen müssen.

Das sind immerhin 136 Zeilen Text. Und sie gehörten einst zum Kanon der Weltliteratur, weil dieser erste Gesang antikes Denken und christlichen Erlösungsgedanken miteinander verband.

Neben Manzoni gilt Dante bis heute als Töpfermeister der Italienischen Sprache. Sein Epos erschien nicht in Latein, sondern im Florentinischen volgare. Das tat seiner Verbreitung keinen Abbruch. Denn obwohl in der Commedia auch viele zeitgenössische Anspielungen auftreten, und Dante manchen Weggefährten im Inferno wiedertrifft, lebt das Werk von seiner zeitlosen Botschaft. Die Göttliche Komödie ist dabei nicht nur ein Höhepunkt mittelalterlicher Dichtkunst, sondern auch eine literarische Enzyklopädie alteuropäischen Wissens.

Trotz all dieser Größe überrascht der Anfang; denn Dantes Werk beginnt mit einem Eingeständnis. Obwohl die Göttliche Kömodie als das mittelalterliche Epos schlechthin gilt, und an die homerischen und vergil’schen Vorbilder anschließt, ist unser Held kein zürnender Waffenträger, kein listiger griechischer Kapitän, kein trojanischer Stadtgründer und auch kein Ritter vom Schlage Parzivals oder Lancelots. Die Divina Commedia handelt nicht von einem glorreichen Helden, sondern von einem verirrten Mann.

Dante erscheint gegen Achill, Odysseus, Aeneas oder die Ritter von Camelot als geradezu erbärmliche Gestalt, die ihre Schwäche offen zugibt. Verirrt in einer finsteren Welt, deren Anblick selbst den Tod als erträglicheres Schicksal erscheinen lässt, ist die Angst sein ständiger Begleiter. Wie er auf den falschen Weg geraten ist, das kann er nicht mehr sagen. Mit 35 Jahren widerfährt Dante dieses Ereignis angeblich in der Karwoche des Jahres 1300 – eine Notiz, die Licht zwischen die schwarzen Blätter des toskanischen Dickichts wirft.

Der Dichter ist im wirklichen wie auch im geistig-spirituellen Leben von der „rechten Bahn“ abgekommen. Der Florentiner gesteht damit ein, dass er persönlich falsch gehandelt hat; und obwohl er versucht, wieder auf den Pfad zurückzufinden, den er wie schlafwandelnd einst verlor, stellt sich ihm zu allem Übel auch noch ein Panther in den Weg. Im Angesicht des wilden Tieres weicht er aus, trifft dann aber auf die nächste Bestie: einen Löwen, dessen Hunger „die Luft zittern“ lässt. Den letzten Funken Mut verliert Dante, als sich ein drittes Tier hinzugesellt. Eine Wölfin vertreibt ihn vom Hügel, den er eben noch erklimmen wollte. Zuletzt rettet er sich in ein finsteres Tal.

Die Begegnungen Dantes mit den Tieren symbolisieren den menschlichen Kampf gegen die eigenen Laster; er kämpft im wahrsten Sinne gegen seinen eigenen „Schweinehund“ an. Der Panther ist das Zeichen der Wollust und der sexuellen Begierden, die einen von der Wahrheit abhalten, und in der ersten Lebensphase zur Sünde führen. Der Löwe mit seinem Hunger steht dagegen für Ehrgeiz und Ruhmsucht; nicht nur Politiker, sondern auch Künstler sind deren größtes Opfer, und Dante spricht sich nicht von diesem Hochmut frei, der so vielen zum Verhängnis wurde.

Die Wölfin, die Dante in seinem ersten Gesang als „magra“ bezeichnet – also im wahrsten Sinne als mager bzw. hager – ist das Sinnbild von Neid und Habgier. Sie gilt als die gefährlichste Bestie, da sie in ihrer Missgunst nicht nur sich selbst, sondern auch anderen schadet. Je mehr sie reißt, desto unzufriedener ist sie mit dem, was sie hat und steigert sich in ihrem Wahn danach, anderen zu schaden und sich an fremdem Eigentum zu bereichern.

Die Mitte von Dantes Lebensweg ist also keine Midlife-Crisis, sondern die Einsicht der eigenen Sünden, die Angst vor der bösen Tat, und der Wille zur Reue. Einzig, Dante ist noch nicht zur Erlösung fähig, fürchtet sich stattdessen vor dem Schicksal. Im Tal fleht er eine fremde Gestalt an, ihn vor den Bestien zu schützen. Die ganze Panik kommt in Dantes folgenden Worten auf den Punkt:

»Mentre ch’i’ rovinava in basso loco,

dinanzi a li occhi mi si fu offerto

chi per lungo silenzio parea fioco.

Quando vidi costui nel gran diserto,

Miserere di me“, gridai a lui,

qual che tu sii, od ombra od omo certo!“«

»Indessen ich zur Tiefe stürzt’ im Fliehn,

Da zeigte meinem Blicke dort sich Einer,

Der durch zu langes Schweigen heiser schien.

„Wer du auch seist,“ so rief ich, als ich seiner

Gewahrt in großer Wüste, „nenn’ ich dich

Mensch oder Schatten, – o erbarm dich meiner!“«

Der Retter in der Not gibt sich zu erkennen: es handelt sich um den römischen Dichter Vergil, den Verfasser der antiken Aeneis – und Dantes literarisches Vorbild. Das mag zuerst verblüffen, dass ausgerechnet ein Heide den reuigen Christenmenschen führen soll; doch Vergil handelt nicht nur aus eigenem Antrieb. Ihn schickt Beatrice, Dantes Sinnbild christlicher Tugend. Und in ihrem Sinne weist er ihn bei seiner Frage nach Hilfe zurecht:

»„A te convien tenere altro vïaggio“,

rispuose, poi che lagrimar mi vide,

„se vuo’ campar d’esto loco selvaggio; “«

»„Du mußt auf einem andern Wege fort,“

Sprach er zu mir, den ganz der Schmerz bezwungen,

„Willst du entfliehen aus diesem wilden Ort.“«

Vergil bereitet Dante darauf vor, dass er sein Seelenheil nicht auf dieser Welt findet, wo die gefährlichen Tiere hausen, und immer wieder vom Weg ablenken. Wie Aeneas oder Odysseus soll Dante in die Unterwelt herabsteigen – freilich, ohne Heldentaten wie jene zu vollbringen. Dantes Mission ist keine Âventurie im traditionellen Sinne, sondern ein Weg zur Selbst- und Gottfindung. Nur die Rückbesinnung auf den spirituellen Teil des Lebens birgt die Rettung vor jenen üblen Laster, die ihn so lange verführten. Vergil bietet sich dabei als Führer durch die Hölle und über den Läuterungsberg an, bis ihn eine würdigere Person – nämlich Dantes Ideal, Beatrice – ablöst.

Der erste Gesang Dantes ist daher die Angst vor dem „Fluch der bösen Tat“, die Panik vor der Gottesferne, der Vorsatz der Reue – und der Antritt einer Buße. Vergil deutet bereits an, dass diese Reise eine gefährliche würde. Doch mit einem Mal ist Dante, den wir bisher als zögernd, ängstlich, irrend und zweifelnd erlebt haben – wie ausgewechselt. Kaum dass er vernimmt, dass am Ende seines Weges das Treffen mit Beatrice und möglicherweise eine Gotteserfahrung steht, streift er alles von sich ab, was ihn vorher hinderte. Ohne zu zögern folgt er Vergil, selbst die Hölle mag ihn nicht schrecken.

Hier atmet die europäische Geistesgeschichte. Vergil, das Sinnbild der antiken Welt, und Dante, das Kind des christlichen Mittelalters, machen sich gemeinsam auf den Weg. Was Dante treibt, ist der Willen zur Erlösung. Groß und episch ist sein Werk, wie die antiken Abenteuer seines Vorbilds, durchsetzt von den Mythen jener Zeit; und dennoch ist es hier die christliche Hoffnung, welche die Handlung in Gang setzt. Antike Wurzeln und christlicher Glaube gehen Arm in Arm. Nur bis zum Ende mag Vergil nicht mitkommen, da er den einen Gott zu Lebzeiten nicht gekannt hat. Mit Vernunft sind Hölle und Purgatorium zu fassen, was aber im Paradies geschieht, das ist nur jenen zugänglich, die auch glauben.

Der Glaube kann verloren gehen – wie in einem Wald, in dem man sich verirrt hat. Aber selbst in der Lebensmitte besteht immer noch die Hoffnung, auf den richtigen Pfad zurückzukehren. Auch, wenn Dante dafür eine kleine Hilfestellung braucht.

Über den Autor:

Marco Fausto Gallina studierte Politik- und Geschichtswissenschaften in Verona und Bonn. Geboren am Gardasee, sozialisiert im Rheinland, sucht der Historiker das Zeitlose im Zeitgeistigen und findet es nicht nur in der Malerei oder Musik, sondern auch in der traditionellen italienischen Küche. Katholische Identität und europäische Ästhetik hängen für ihn dabei unzertrennlich zusammen. Unter den Schwingen des venezianischen Markuslöwen betreibt er seit 2013 sein Diarium, den Löwenblog.

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Beim Schneiden der Tomaten https://www.thecathwalk.de/2016/05/23/beim-schneiden-der-tomaten/?pk_campaign=feed&pk_kwd=beim-schneiden-der-tomaten https://www.thecathwalk.de/2016/05/23/beim-schneiden-der-tomaten/?pk_campaign=feed&pk_kwd=beim-schneiden-der-tomaten#comments Mon, 23 May 2016 06:00:06 +0000 http://thecathwalk.de/?p=4511 Warum Küche, Kunst und Kultur als Teil unserer Identität zusammenhängen Tomatenschneiden gilt mit Sicherheit nicht als eine der unterhaltsamsten Beschäftigungen. Aber muss alles, was gut und schön ist, zugleich unterhaltsam sein? Ist Caravaggios Ungläubiger Thomas unterhaltsam? Beethovens 7. Sinfonie ist es mit Sicherheit. Aber Michelangelos Pietà? Irgendwie erscheint heute alles, was keinen „Spaß“ macht, grundsätzlich weniger wertvoll. Ich habe mir […]

Der Beitrag Beim Schneiden der Tomaten erschien zuerst auf cathwalk.de und wurde von Marco Gallina verfasst.

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Warum Küche, Kunst und Kultur als Teil unserer Identität zusammenhängen

Tomatenschneiden gilt mit Sicherheit nicht als eine der unterhaltsamsten Beschäftigungen. Aber muss alles, was gut und schön ist, zugleich unterhaltsam sein? Ist Caravaggios Ungläubiger Thomas unterhaltsam? Beethovens 7. Sinfonie ist es mit Sicherheit. Aber Michelangelos Pietà?

Irgendwie erscheint heute alles, was keinen „Spaß“ macht, grundsätzlich weniger wertvoll. Ich habe mir sagen lassen, dass mittlerweile Tomatenschneidemaschinen existieren oder andere, die Arbeit erheblich verkürzende Mittel. Und mit Recht wird man die Frage stellen, weshalb ich eine solch redundante Zweckarbeit wie das Tomatenschneiden auf eine Stelle mit Meisterwerken der europäischen Zivilisation stelle.Die Frage kann nur jemand stellen, der entweder nicht aus dem romanischen Kulturkreis stammt, oder – noch schlimmer – aus dem romanischen Kulturkreis stammt und keinerlei Bezug zu seinen Wurzeln hat. Vielleicht kann sie auch bei einem Nicht-Romanen vorkommen, der überdies seine Wurzeln verloren hat.

Die Antwort ist simpel: Kochen ist eine Kunst und so ein immanenter Teil jeder Kultur, sodass Tomatenschneiden dieselbe Bedeutung besitzt, wie für einen Maler das Mischen seiner Farben, bevor er den Pinsel auf der Leinwand ansetzt.

Unsere traditionelle Kochkultur ist ein offensichtliches Bindeglied zur Geschichte unserer Vorfahren und mit deren Leben. Wir stehen damit in Kontinuität zu unseren Eltern, Großeltern und Urgroßeltern, wenn wir ihr Erbe forttragen – und mag es nur ein Rezept sein, das sich in Familienbesitz befindet. Auf der nächsten Ebene folgt die Kultur, ob nun regional oder national; und wer einen Sinn hat für das eigene Sein, das auf dieser Ebene besteht, der kocht prinzipiell anders als die Veggie-Lifestyle-Fraktion.

Ich koche, was mir schmeckt und was ich immer gerne gegessen habe. Das heißt nicht, dass ich nicht auch neue Dinge erlerne; aber traditionelles Essen, das aufs tiefste mit der Geschichte meiner Familie, meiner Vorfahren, meiner Kultur und – darf man das noch sagen? – meines Volkes verbunden ist, hat einen Hauch jenes Großen und Ganzen, des fast Mythisch-Verborgenen, das eine ganz eigene Kraft besitzt.

Kochen ist damit ein Teil von Identität und Kultur. Es traditionell zuzubereiten, ist zeitintensiv. Eine gute Tomatensauce braucht ihre Zeit. Etwa eine Stunde. Tomatenstücke und Knoblauch bilden eine Komposition im Meer hellgrünen Olivenöls, vermischt sich dort mit den Aromen von Salz und Zucker, in denen winzige Peperonikörner schwimmen – gekrönt von einem Blätterstrauch Basilikum. Der gesammelte Duft dieses Kochgemäldes ist sicherlich nicht mit einem Caravaggio vergleichbar, sticht aber in dieselbe Richtung.

Die Tomatensauce selbst zu kochen wohnt eine Innigkeit bei, die der einfache Kauf im Supermarkt niemals wettmachen kann. Das eine, das ist Tradition, das ist Meditation, das ist Liebe; das andere ist effizient. Aber befriedigend?

In solchen Situationen tritt meine italienische Seite weit stärker hervor als meine deutsche. Und ich merke dann, wieso sie dominiert: Kochen ist Teil der Identität. Was ich koche, was ich esse, das bin ich selbst. Kochen ist ein kreativer, ein schöpferischer Vorgang; und für mich ist der Mensch erst dann völlig Mensch, wenn er kreativ ist. Der Übergang von Jägern und Sammlern zum „Kultur“-Menschen geschah mit dem Ackerbau. Landwirtschaft ist einer der ersten schöpferischen Vorgänge, in denen der Mensch Land formte, bestellte, schaffte. Er ist ebenso kreativ wie die Formung einer Vase aus Ton.

Das scheinen hochtrabende Worte für einen solch monotonen Vorgang. Aber man lernt ihn zu schätzen in dieser schnellen, effizienten, ruhelosen Zeit. Während Unmengen von Leuten unten auf der Straße vorbeiziehen, verkommt der Schnitt jeder roten Frucht zu einer Konterrevolution, zu einem Vorgang der Langsamkeit und Kontinuität, ewig und stet wie das Ticken einer alten Taschenuhr aus dem 19. Jahrhundert. Da unten das 21. Jahrhundert in all seinem bresmlichterverblassenden Unruhegeist; hier oben, in der Küche, nur das Ratschen, Schneiden, Klacken. Wiederholt aufs Neue.

Und in dieser ruhenden Stille der Ewigkeit wird dieser einfache Vorgang, den vor mir Abermillionen von Männern, Frauen und Kindern wiederholten, seitdem auf der Apenninhalbinsel die ersten Tomaten aus der neuen Welt strandeten, zum Ritual der Tradition und Kontinuität von Generationen. Der spritzende Saft wird zum Erfolgserlebnis, bereichert durch den Duft, der das Zimmer einhüllt. Es sind solche Rituale, die den Geist befreien, und uns für eine halbe Stunde vom Weltgeschehen entfremden. Momente, die der postmoderne Mensch vergessen hat.

All diese Gedanken kamen mir bei dieser Tätigkeit, die auf den ersten Blick so nichtig erscheint, länger betrachtet aber zum Leben schlechthin wird. Mir stellte sich dabei die Frage nach der Kraft dieses Gefühls der Italianità – und mir scheint es kein falscher Gedanke, dass der italienische Nationalstolz (ob nun städtisch, regional oder national) auch darin begründet liegt, dass dieser Teil der kulturellen Identität weitaus wacher ist als in Deutschland.

Wie viele junge Frauen kenne ich, die kochen können? Im ersten Moment – nicht einmal so viele, dass ich sie an der Hand abzählen müsste. Und noch mehr: wie viele können „deutsch“ kochen? Ist die deutsche Küche nicht vielleicht schon ausgestorben: im Wust vom Döner zwischendurch, dem Fertiggericht abends, oder auch der stylischen Salatdiät aus irgendeinem Magazin, das Modernität, Schlankheit und Weltoffenheit verspricht?

Wer soll diese Kultur weitertragen? Und stirbt nicht ein Teil der Kultur – und damit wieder: des „Seins“ an sich – wenn dieser Teil des Kulturgedächtnisses ausstirbt? Ist es vielleicht schon tot, weil nur noch Großmütter diese Kunst kennen, die unser aller Leben bereichert?

Und spricht es nicht Bände, dass die Deutschen nach den Amerikanern selbst am ehesten amerikanisiert sind? Pardon! Stattdessen halten Begriffe wie kosmopolitisch, weltoffen, tolerant oder sonstige bunte Vokabeln her, um den eigenen Kulturverlust und Kulturimperialismus zu kaschieren….

Das heißt nicht, dass man nicht auch mal zum Chinesen essen gehen kann. Aber eben nicht unter Selbstaufgabe seines eigenen kulturellen Bewusstseins.

Womöglich können solche Gedanken nur einem „Kulturchauvinisten“ wie mir einfallen, der im Zubereiten des eigenen Mahls einen Funken des kreativen Göttlichen erkennt, der uns Menschen zu Menschen macht. Tiere oder Pflanzen kochen nicht (in einer diabolischen Wende könnte man sagen: deshalb kochen wir sie ja). Und wenn ich die Kunstküche der Veganer sehe, an der alles natürlich, und in letzter Instanz doch alles nur artifiziell ist,* so frage ich mich noch mehr, ob das Vergessen unserer Kochkunst nicht auch eine Selbstaufgabe von Kultur ist – und womöglich mit einem kulturellen Selbsthass einhergeht.

Wenn die italienische Kultur überlebt, dann mit Sicherheit ihrer Küche wegen. Denk ich dagegen an Deutschland in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht…

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*Die Veganische Küche lässt sich am besten mit einem Weihnachtsbaum aus Plastik bezeichnen. Sieht natürlich aus, ist aber das komplette Gegenteil.

Marco Fausto Gallina studierte Politik- und Geschichtswissenschaften in Verona und Bonn. Geboren am Gardasee, sozialisiert im Rheinland, sucht der Historiker das Zeitlose im Zeitgeistigen und findet es nicht nur in der Malerei oder Musik, sondern auch in der traditionellen italienischen Küche. Katholische Identität und europäische Ästhetik hängen für ihn dabei unzertrennlich zusammen. Unter den Schwingen des venezianischen Markuslöwen betreibt er seit 2013 sein Diarium, den Löwenblog.

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Don Camillo-Autor Guareschi und seine Prophezeiung https://www.thecathwalk.de/2016/05/17/don-camillo-autor-guareschi-und-seine-prophezeiung/?pk_campaign=feed&pk_kwd=don-camillo-autor-guareschi-und-seine-prophezeiung https://www.thecathwalk.de/2016/05/17/don-camillo-autor-guareschi-und-seine-prophezeiung/?pk_campaign=feed&pk_kwd=don-camillo-autor-guareschi-und-seine-prophezeiung#comments Tue, 17 May 2016 05:35:28 +0000 http://thecathwalk.de/?p=4246 Giovannino Guareschi, der Erfinder des streitbaren Priesters Don Camillo und seines kommunistischen Widersachers Peppone, gilt bis heute als populär. Insbesondere die politische Linke, welche die damaligen Medien dominierte, feindete ihn an. Seine Bücher galten als naive Märchen ohne Tiefgang. Aber hat der Mann aus den Tiefen der norditalienischen Po-Ebene der Nachwelt wirklich nichts zu sagen? […]

Der Beitrag Don Camillo-Autor Guareschi und seine Prophezeiung erschien zuerst auf cathwalk.de und wurde von Marco Gallina verfasst.

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Giovannino Guareschi, der Erfinder des streitbaren Priesters Don Camillo und seines kommunistischen Widersachers Peppone, gilt bis heute als populär. Insbesondere die politische Linke, welche die damaligen Medien dominierte, feindete ihn an. Seine Bücher galten als naive Märchen ohne Tiefgang. Aber hat der Mann aus den Tiefen der norditalienischen Po-Ebene der Nachwelt wirklich nichts zu sagen?

„Den Schriftsteller Guareschi gibt es überhaupt nicht“ – das war nur eine der vielen Spitzen, die Giovannino Guareschi zu Lebzeiten ertragen durfte. Kollegen und Literaturkritiker übergingen seine Werke; die Geschichten über einen Landpfarrer und seiner Fehde mit dem kommunistischen Bürgermeister erschienen den Redakteuren der italienischen Feuilletons als unwürdig. Noch in seiner Jugend hatte man Guareschi jegliches Schreibtalent abgesprochen. Man empfahl ihm, auf den väterlichen Hof zurückzukehren, und wie dieser Landwirt zu werden.

Glücklicherweise hatte der geistige Vater Don Camillos einen ebenso ausgeprägten Dickkopf wie seine bekannteste Figur und ließ sich nicht beirren.

Der Schriftsteller Giovannino Guareschi

Es ist eine der häufigen Ironien der Geschichte, dass es ausgerechnet der kommunistische Vordenker Antonio Gramsci war, der eine Erlangung der „kulturellen Hegemonie“ in Italien auch dadurch vorantreiben wollte, indem sich die Schriftsteller nicht nur auf die Probleme ihrer eigenen Schicht konzentrieren sollten. Die Themen sollten das einfache Volk ansprechen. Aber auch in der Nachkriegszeit blieb die marxistisch-intellektuelle Elite weiterhin unter sich. Für das „Volk“ blieben viele Texte unverständlich. Dabei sei auch erwähnt, dass die Durchsetzung des Standarditalienischen selbst in den 50er Jahren noch nicht völlig abgeschlossen war; erst mit der Verbreitung des Fernsehens nahm die dominante Rolle des Dialekts ab. Verständlich, dass das Hochitalienisch der ideologisch versierten Schriftsteller mit ihren Fachworten und geschliffenen Ausdrücken auch deswegen breiten Schichten schlichtweg unverständlich blieb.

Der einzige Schriftsteller, der Gramscis Diktum erfüllte, war ausgerechnet Giovannino Guareschi. Er kam aus dem einfachen Volk, erzählte vom einfachen Volk, und schrieb für das einfache Volk. Ausgerechnet ein Bauernjunge. Ausgerechnet ein tiefgläubiger Katholik. Ausgerechnet ein Reaktionär und Royalist – vielleicht der einzige in der gesamten, tiefroten Emilia! Guareschi war damit im besten Sinne ein Populist.

Man kann sich die rauchenden Köpfe und zornesroten Gesichter der Salonkommunisten in den Cafés und Bars von Turin, Mailand oder Florenz vorstellen. Was man dort nicht in Jahrzehnten hinbekam, schaffte Guareschi mit seinen Don-Camillo-Büchern in wenigen Jahren. Dann auch noch die Filme: wo doch auch das Kino vor allem Sache der Linken war.

Ein unbekannter Fakt: der meistgelesene, und meistverkaufte Schriftsteller Italiens ist nicht etwas Calvino, Svevo, Manzoni oder Eco. Es ist und bleibt Guareschi. Bis heute.

Die linke Kaste versuchte daher den Erfolg des padanischen Schriftstellers herabzusetzen, indem man ihm Naivität vorwarf; Schlichtheit; gar intellektuelle Leere. Bis heute kann man auch noch in Fernsehzeitungen von einem „naiven Märchen“ lesen, wenn es um Don Camillo und Peppone geht.

Naive Märchen. Klar. Wenn in einem Dorf zwei Kontrahenten leben, und nach vielen Streitereien zusammenarbeiten müssen, um ihre Gemeinde zu retten, dann ist das naiv. Wenn es aber um den Aufbau eines völlig utopischen Weltstaates mithilfe hanebüchener Theorien aus dem 19. Jahrhundert geht, dann ist das natürlich visionär.
Immer wieder drollig, diese Marxisten.

Diese Erscheinung ist natürlich symptomatisch. Sie ist weder genuin italienisch, noch neu oder alt. Man muss nur einen Blick auf das deutsche, literarische Milieu werfen. Ist es denn da besser? Nun sind nicht (mehr) alle führenden Kritiker und Journalisten links; dass die Literaturwelt aber in ihrem eigenen Elfenbeinturm lebt, Stil eher Geschmackssache ist, und politische Gesinnungen dort weiterhin Bedeutung haben, ist ja nun ein offenes Geheimnis.

Natürlich konnte Guareschi der Szene auch deswegen nicht gefallen, weil in seinen Büchern der Materialismus als philosophische Strömung und der Kommunismus als dessen politisches Äquivalent nicht nur auf die Schippe genommen, sondern auch komplett verworfen werden. In Guareschis Büchern siegt das Geistige über das Materielle, Gott über den kleinen Teufel in uns allen. Peppone und Don Camillo müssen sich beide diesen Regeln fügen; wenn Don Camillo einen Sieg verbucht, der moralisch fraglich ist, muss auch er Buße tun. Don Camillo siegt nur dann ganz, wenn er rechtschaffen und im Sinne des Guten handelt.

Ebenso hat Peppone das Recht, seine Rache zu nehmen, wenn ihn Don Camillo geärgert hat; und Gott stellt sich ihm nicht in den Weg, wenn er die Wahl zum Bürgermeister oder Senator gewinnt, weil er diese ehrlich und durch Leistung gewonnen hat. Man kann über Peppone sagen was man will, aber er macht sich um seine Gemeinde (zumindest meistens) verdient. Dennoch: auch Peppone siegt nicht zuletzt deswegen, wenn er zeigt, dass er einen guten Charakter hat. Und damit ist auch Peppone, der nachts Kerzen aufstellt, betet oder seine Kinder zur Taufe schickt – weiterhin Teil der Erlösung und steht nicht außen vor. Oder um es mit Signora Cristina zu sagen, die ich bereits anderswo als Guareschis alter Ego skizzierte: »Gott segne dich, mein Sohn – selbst wenn du ein Bolschewist bist.«

„Don Camillo und das rothaarige Mädchen“

Das kann man naiv nennen; oder im höchsten Maße mitfühlend, human und weise. So verstehe ich es zumindest. Ähnlich existiert eine Textstelle, die aus „Don Camillo e i giovanni d‘oggi“ (Don Camillo und die jungen Leute von heute) stammt. Im Deutschen erschien dieser letzte Band unter dem Titel „Don Camillo und das rothaarige Mädchen“. Der Titel ist in der Übersetzung deswegen irreführend, weil er das Thema einschränkt.

Das Buch erschien 1969 posthum. Schon Guareschis Todesjahr 1968 erscheint symbolisch und der Umstand, dass es sein letztes Werk war, dazu auch noch ein Camillo-Roman. Liest man einige Passagen davon, so erscheint es als das Vermächtnis des Schnauzbartträgers aus der Padana. Als läge ein Fluch darüber, so verstarb Fernandel bei den Dreharbeiten zum Film. Gino Cervi wollte nicht ohne Fernandel auftreten, man drehte den Film mit anderen Schauspielern – wodurch dieser nie den Erfolg der Vorgänger erlangte und auch nicht zum Kanon wurde.

Nur eine kurze Zusammenfassung: der Priester Don Camillo und sein alter Widersacher, der kommunistische Bürgermeister Peppone, sind in die Jahre gekommen. Probleme bereitet dem Gottesmann nicht nur seine junge Nichte, die sich ganz dem Lebensstil der wilden 60er hingibt, sondern auch der neue Priester Don Chichì, der die Errungenschaften des Zweiten Vatikanischen Konzils nach Brescello bringen soll. Mit dem intellektuellen Chichì kommt der Reverente ebenso wenig klar wie mit dem neuen Ritus. Peppone macht Ähnliches durch: nicht nur gerät sein Sohn Michele – genannt „Veleno“ (Gift) – als Mitglied einer Rockerbande auf Abwegen, es zieht auch noch ein maoistisch getrimmtes Apothekerpärchen nach Brescello, das mit seinem Bildungsmarxismus dem bodenständigen Peppone ein ebenso großes Ärgernis ist wie für Don Camillo der junge Don Chichì.

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Ein prophetisches Werk

Damit erscheinen schon einige Elemente in Guareschis Text prophetisch. Guareschi hatte ein sehr zwiegespaltenes Verhältnis zum Zweiten Vaticanum. Einerseits beschreibt er in einer Episode des Buches, dass Don Camillo Chichì auch deswegen nicht verstehe, weil er bereits vor den Beschlüssen in Rom doch nichts anderes getan hätte; aber die Anbiederung an den Zeitgeist und die lascher werdende Bekämpfung der Kommunisten stößt ihm ebenso auf wie seinem Schöpfer. Überhaupt tut sich der Landpfarrer – den eher der praktische Verstand auszeichnet – mit dem theoretisch-akademischen Intellekt seines jüngeren Konkurrenten schwer.

Genau dieselbe Erfahrung macht Peppone. Peppone ist kein marxistischer Vorzeigedenker, er ist ein bodenständiger Kerl, und als Kfz-Mechaniker ein echter Arbeiter, der auch mal – um ein Wort von Franz Josef Strauß abzuwandeln – einen Schraubenschlüssel in der Hand hatte; im Gegensatz zu den ganzen Politologen und Soziologen, die immer mehr seine Partei unterwandern. Grüne Nachtigall, ick hör dir trapsen, könnte man da einwenden: denn die neuen maoistischen Bildungsbürger haben mit der eigentlichen Idee des proletarischen Arbeiteraufstandes so viel zu tun, wie die von einer selbsternannten Ökopartei aufgestellten, und heute überall zu bewundernden Wind- und Zugvögeltötungsanlagen mit Umweltschutz. Unbewusst skizziert Guareschi hier messerscharf jenes linke Milieu, das heute in Deutschland tatsächlich die kulturelle Hegemonie ausübt, aber selbst einen Wohlstandssozialismus in bester Manier lebt.

Augenblicklich wird damit auch klar, dass Peppone im Innersten eben kein Materialist, sondern ein romantischer Idealist ist, und vermutlich deswegen Don Camillo im Geiste doch so nahe. Beide sind „Reaktionäre“, beide begleitet das melancholische Gefühl einer untergehenden Zeit. Beide wissen bereits: die Zukunft gehört mehr dem Schein als Sein, den Theoretikern und nicht den Praktikern, denen, die sich anbiedern, statt denen, die kämpfen.In dieser Situation wendet sich Don Camillo an Jesus.

Und dieser Dialog, mit all seinem prophetischen Inhalt, ist es wert, in voller Länge übersetzt zu werden; beginnend mit Jesus, der die Sorgen seines Schützlings zur Kenntnis nimmt:

»Don Camillo, warum bist du so pessimistisch? War mein Opfer denn umsonst? Ist denn meine Mission bei den Menschen gescheitert, weil die Bosheit der Menschen größer ist als die Güte des Herrn?«

»Nein, Herr. Ich will nur sagen, dass die Leute heute an das glauben, was sie sehen und greifen können. Aber es existieren wesentliche Dinge, die nicht gesehen, nicht berührt werden können: Liebe, Güte, Frömmigkeit, Ehrlichkeit, Bescheidenheit, Hoffnung. Und Glauben. Das ist die Selbstzerstörung, von der ich dir erzählt habe. Die Menschheit, so scheint es, zerstört ihr gesamtes spirituelles Erbe. Der einzig wahre Reichtum, den sie in Jahrtausenden angehäuft hat. Eines Tages, nicht weit vom heutigen, werden wir genau so sein wie die Steinzeitmenschen in ihren Höhlen. Diese Höhlen werden wie hohe Wolkenkratzer sein, mit den wundersamsten Maschinen angefüllt, aber der Geist der Menschen wird jener der der Höhlenmenschen sein.

Herr: die Menschen fürchten sich vor schrecklichen Waffen, die Menschen und Dinge vernichten. Aber ich glaube, einzig die Sachen, die ich eben erwähnt habe, können den Menschen ihren Reichtum zurückgeben. Am Ende werden sie alles zerstören, und die Menschen, befreit von der Sklaverei und allen irdischen Gütern, werden wieder zu Gott schauen. Sie werden Ihn widerfinden und ihr spirituelles Erbe neu aufbauen, dessen Zerstörung sie in unseren Tagen beenden. Herr, wenn es das ist, was uns widerfahren wird – was können wir tun?«

»Dasselbe, was ein Bauer tut, wenn der Fluss über die Ufer tritt und die Felder überschwemmt: die Saat retten. Wenn der Fluss sich in sein Bett zurückzieht, so scheint die Erde wieder auf und die Sonne trocknet sie. Wenn der Bauer den Samen gerettet hat, kann er ihn erneut auf der Erde ausbringen, die durch den Fluss noch furchtbarer gemacht wurde; und der Samen wird heranreifen, und die prallen und goldenen Ähren werden den Menschen Brot, Leben und Hoffnung geben.

Man muss den Samen retten: den Glauben. Don Camillo, man muss denen helfen, die noch Glauben haben und ihn intakt halten. Die geistige Wüste erstreckt sich jeden Tag ein Stück weiter, jeden Tag trocknen mehr Seelen aus, weil sie den Glauben abgeworfen haben.
Jeden Tag zerstören immer mehr Menschen vieler Worte aber ohne Glauben das spirituelle Erbe der Menschheit und den Glauben anderer. Menschen jeder Rasse, jeder Abstammung, jeder Kultur.«

Don Camillo wäre nicht Don Camillo, wenn er sarkastisch nachfragte:

»Willst du damit vielleicht andeuten, dass der Teufel so listig geworden ist, dass er es ab und an auch schafft, sich als Priester zu verkleiden?«

»Ich bin gerade erst aus dieser Klemme mit dem Konzil herausgekommen, willst du mich wieder in die Klemme bringen?«

Wenn das naive Worte sein sollen; bitteschön. Sie sind es definitiv nicht. Bereits 1968 sagt Guareschi in wenigen Sätzen das aus, worin wir leben: in einer Gesellschaft des Scheins, der Worte und der glückseligmachenden Maschinen, in denen Geist und Spiritualität ebenso wenig eine Rolle spielen wie Charakter. Und er sagt das voraus, was auch André Malraux schon in den 60ern ankündigte: die Rückkehr des Glaubens, ohne den es keine Hoffnung geben wird.

Wenn ich diese ganzen Leute mit ihrer gekrümmten Haltung, und ihren affenartig verformten Fingern sehe, die völlig weltabgewandt auf die Tasten hauen und auf Minibildschirme schauen – sind wir dann noch so weit von Guareschis Steinzeitmenschen entfernt?


Marco Fausto Gallina studierte Politik- und Geschichtswissenschaften in Verona und Bonn. Geboren am Gardasee, sozialisiert im Rheinland, sucht der Historiker das Zeitlose im Zeitgeistigen und findet es nicht nur in der Malerei oder Musik, sondern auch in der traditionellen italienischen Küche. Katholische Identität und europäische Ästhetik hängen für ihn dabei unzertrennlich zusammen. Unter den Schwingen des venezianischen Markuslöwen betreibt er seit 2013 sein Diarium, den Löwenblog.

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