Samstag, 27. April 2024

„Dein Reich ist in den Wolken und nicht von dieser Erde“

Der Dichter Clemens Brentano und sein Werk – ein Leben für die Suche nach wahrer Liebe, Kunst und Religiosität

Clemens Wenzeslaus Brentano de La Roche (* 9. September 1778 in Ehrenbreitstein (heute Koblenz); † 28. Juli 1842 in Aschaffenburg)
Clemens Wenzeslaus Brentano de La Roche (* 9. September 1778 in Ehrenbreitstein (heute Koblenz); † 28. Juli 1842 in Aschaffenburg)

von Jonas Grininger

Wer sich eingehend mit der deutschen Romantik beschäftigt, wird an Clemens Brentano nicht vorbeikommen. Seine schriftstellerische Hinterlassenschaft hinsichtlich Sprache, Stil und Inhalt ist fester Bestandteil der deutschen Literaturgeschichte. Die Persönlichkeit und der Charakter Brentanos bilden einen wichtigen Schlüssel, um Zugang zu seinem Werk zu erhalten. Der Dichter, teils als „enfant terrible“ und Außenseiter gebrandmarkt, teils als romantische Schriftstellerexistenz schlechthin betitelt, hinterließ uns einen reichen literarischen Nachlass. Die bei ihm immer wiederkehrenden Motive Liebe, Religiosität und die Frage nach der richtigen Kunst laden ein, uns auf seine Spuren zu begeben und sein wechselvolles Leben und Werk näher zu betrachten.

Glauben, Hoffen, Lieben, Schweigen / Lass uns diese Pfade steigen!“ 1 Brentano entstammte einer wohlhabenden katholischen Kaufmannsfamilie. Er wurde am 9. September 1778 in Ehrenbreitstein, einem heutigen Stadtteil von Koblenz, geboren. Brentano war das zweite Kind aus der Ehe, die der verwitwete Vater Brentanos wieder eingegangen war. Brentano hatte insgesamt neunzehn Geschwister und Halbgeschwister. Die Vorfahren Brentanos väterlicherseits stammten aus Italien, der Vater siedelte nach Frankfurt am Main über und begründete dort ein großes Handelshaus. Der Vater war geprägt vom kaufmännischen Ethos, in welchem Rationalität und auf Nutzen ausgerichtetes Handeln leitende Werte darstellten, und galt als streng und gefühllos. Anders war die Mutter strukturiert. Sie pflegte einen liebevollen und einfühlsamen Umgang, sodass Brentano von frühester Zeit an, auch über ihren Tod hinaus, eine enge Bindung zu ihr entwickelte, die sein gesamtes späteres Leben anhielt. In den ersten Lebensjahren wuchs Brentano bei seiner Tante auf, später wurde er auf ein Internat geschickt. Als die Mutter des gerade Fünfzehnjährigen überraschend und noch sehr jung verstarb, erwies sich dies für Brentano als eine erschütternde Erfahrung, die ihn sein ganzes Leben lang prägte. Es ist erstaunlich, wie stark doch Erfahrungen in frühester Kindheit die spätere Persönlichkeit und das Wirken beeinflussten, auch wenn an dieser Stelle einer unangemessenen Psychologisierung von Brentanos Werk nicht Vorschub geleistet werden soll. Gespannt blieb zeitlebens das Verhältnis Brentanos zu seinem Vater. Dieser beabsichtigte, seinen Sohn zur Aufnahme einer kaufmännischen Ausbildung zu bewegen, wogegen sich dieser aber erbittert wehrte. Brentanos Interessen und Begabungen lagen auf einem ganz anderen Gebiet. Er war polyglott, hatte musische Neigungen und interessierte sich früh für Literatur und Philosophie.

Erste Liebe und literarische Erfolge: Die Jenaer Zeit Die Absage Brentanos an den Wertekanon des heraufziehenden bürgerlichen Zeitalters machte es selbstredend, dass alle Versuche des Vaters, den Sohn zu einer akademischen Laufbahn zu bewegen, scheitern mussten. Der Tod von Brentanos Vater 1797 markierte in dieser Hinsicht einen Wendepunkt. Dem jungen Brentano stand nun ein beträchtlicher Erbteil zu, der ihn für die gesamte Dauer seines Lebens finanziell unabhängig machte.

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Nach einem kurzen Zwischenspiel an der Universität zu Halle, an der er für das Studium der Bergwissenschaften eingeschrieben war, wechselte er 1798 nach Jena, um dort ein Medizinstudium aufzunehmen. Brentano hatte diesen Studienort bewusst gewählt, denn in Jena hatte sich zu jener Zeit ein Zirkel namhafter Vertreter der frühen romantischen Epoche gebildet, darunter die Gebrüder Schlegel und Ludwig Tieck. Auch die geografische Nähe zu Weimar, wo damals das „Viergestirn“ um Goethe, Schiller, Wieland und Herder ein produktives geistiges Zentrum bildete, mochte damals auf Brentano anziehend wirken. Entgegen dem Wunsch seiner Familie ging Brentano in Jena jedoch nicht medizinischen Studien nach, sondern suchte Zugang zur philosophischen und literarischen Diskussion der Zeit. Nach einigen ersten kleineren Gedichten und Erzählungen veröffentlichte Brentano 1801 den Roman Godwi mit dem Untertitel Das steinerne Bild der Mutter. Dieser Roman verschaffte dem 23-Jährigen erstmals eine größere Bekanntheit. Hier gab Brentano den davor zumeist theoretisch formulierten Ideen der Frühromantiker erstmals Romangestalt. Der Roman enthält auch das weltbekannte Gedicht von der Lore Lay, das entgegen vieler Mutmaßungen eine Eigendichtung Brentanos darstellt: „Zu Bacharach am Rheine / Wohnt eine Zauberin, / Sie war so schön und feine / Und riss viel Herzen hin. / Und brachte viel zuschanden / Der Männer rings umher, / Aus ihren Liebesbanden / War keine Rettung mehr!“ Und es endet mit dem Ausruf: „Und immer hats geklungen / Von dem drei Ritterstein: / Lore Lay / Lore Lay / Lore Lay /Als wären es meiner drei.“ 2 In diese Zeit fiel auch die erste große Liebe Brentanos, die er in einem Jenaer Salon kennenlernte. Es handelte sich um die Frau eines Justizprofessors, Sophie Mereau, die acht Jahre älter als er selbst war. Brentanos Hingabe und Liebe zu Sophie Mereau war absolut, denn offenbar schrieb er Mereau eine Mutterrolle zu, die diese aber zunächst nicht zu übernehmen bereit war. Nach der Lösung Sophie Mereaus von ihrem früheren Mann ging sie mit Brentano eine Verbindung ein und sie zogen nach Heidelberg. Von welch besitzergreifender Zuneigung zu Sophie Mereau Brentano ergriffen war, zeigt folgender Auszug aus einem Gedicht, welches Brentano zur Geburt des ersten Kindes dichtete: „ O Mutter halte dein Kindlein warm / Die Welt ist kalt und helle / Und leg` es sanft in deinen Arm / An Deines Herzens Schwelle.“ Und am Ende des Gedichts lässt Brentano ein Kind zu seiner Mutter sagen: „Was heilig dir zu aller Stund` / Das bin ich all gewesen, / O küss mich süßer Mund gesund, / Weil du an mir genesen.“ 3 Das neue Vaterglück endete jedoch jäh, als zunächst das erste Kind und kurz darauf auch das zweite starb. Als Sophie Mereau bei ihrer dritten Geburt im Kindbett verschied, war dies ein schwerer Schicksalsschlag für Brentano.

Warum ist es am Rhein so schön? Die Tragik in Brentanos Lebenslauf spann sich auch nach dem Tode von Sophie Mereau weiter fort. Brentano lernte in Frankfurt die junge Auguste Bussmann kennen, die aus einer reichen Bankiersfamilie stammte. Kurz darauf fand die Hochzeit statt, doch in dieser Ehe war Brentano kein Glück beschieden. 1814 trennten sich ihre Wege wieder.

Eine sehr ergiebige Phase in Brentanos schriftstellerischem Schaffen resultierte aus der Zusammenarbeit mit Achim von Arnim, seinem späteren Schwager, den er in Göttingen kennengelernt hatte. Mit von Arnim unternahm er 1802 eine Rheinreise. Der Rhein galt nicht erst seit den Befreiungskriegen gegen Napoleon als „Schicksalsstrom“ und „deutschester aller Flüsse“, sondern diente zuvor schon als ein Sehnsuchtsort und dichterische Inspirationsquelle. Das Bild des mit Weinreben und Burgruinen bekränzten oberen Mittelrheintals zwischen Bingen und Koblenz, mit dem Loreley- Felsen als Manifestationsort aller romantischen Sehnsüchte, hat sich tief in die deutsche Volksseele eingegraben. Auch Clemens Brentano ließ das Rheinmotiv in zahlreiche seiner Gedichte einfließen, wie etwa hier in dem Gedicht Abschied vom Rhein: „Nun, gute Nacht! mein Leben, / Du alter, treuer Rhein! / […] / Der Schiffer schläft im Nachen / Und träumet von dem Meer; / Du aber du musst wachen / Und trägst das Schiff einher; / Du führst ein freies Leben, / Durchtanzest bei den Reben / Die ernste Nacht. / […] / Auch manchen lehrst du weinen, / Dem du sein Lieb entführt, / Gott wolle die vereinen, / Die solche Sehnsucht rührt; / […] / Gut Nacht! ich muss mich wenden, / Muss nun mein Singen enden, / Gut Nacht! mein Rhein!“ 4

Das Hauptwerk von Brentano und Arnim bildete „Des Knaben Wunderhorn“, eine zwischen 1806 und 1808 erschienene mehrbändige Sammlung deutschen Volksliedgutes. Hierfür trugen beide alte Handschriften und Drucke aber auch mündliche Überlieferungen sowie zeitgenössische Gedichte zusammen. Die dichterische Leistung Brentanos lag vor allem darin, die Texte nicht nur gesammelt, sondern sie auch in eine für ihn charakteristische klangvolle Sprache, in einen „Volksliedton“ überführt zu haben. Brentano fügte in die Sammlung aber auch eigens verfasste Dichtungen ein. Er besaß die genialische Begabung, die Form und Sprachgestalt alter Textvorlagen so nachzuahmen, dass er „damit ganze Generationen von Germanisten genarrt hat.“ 5 Der historische Wert der Arbeiten Brentanos und Arnims steht jenem der Gebrüder Grimm, die etwa zeitgleich alte Volksmärchen und -sagen verschriftlichten und somit vor dem Vergessen bewahrten, in nichts nach. Das Liedgut „Des Knaben Wunderhorn“ fand in der nachfolgenden Zeit vielfach Eingang in Liederbücher für Jugendliche oder Studenten und wirkte fortan oftmals als Bezugspunkt für andere Künstler.

Die katholische Wende Im Herbst 1814 ging Brentano nach Berlin. Die dortigen Ereignisse veränderten sein nachfolgendes Leben nachhaltig, denn zum damaligen Zeitpunkt befand er sich in einer ernsten Lebenskrise. In einem Brief an Wilhelm Grimm schrieb er: „Mein ganzes Leben habe ich verloren, teils in Irrtum, teils in Sünde, teils in falschen Bestrebungen. Der Blick auf mich selbst vernichtet mich, und nur wenn ich die Augen flehend zum Herrn aufrichte, hat mein zitterndes und zagendes Herz einigen Trost. […] Meine dichterischen Bestrebungen habe ich geendet, (…) denn man soll das Endliche nicht schmücken mit dem Unendlichen, um ihm einen Schein des Unendlichen zu geben.“ 6 Zur Sprache kamen hier einerseits Zweifel am literaturtheoretischen Dogma der Romantik wie es Novalis formulierte: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.“ 7 Brentano zweifelte auch an der tragenden Rolle der Literatur in seinem Leben, wo er nicht mehr genug Halt zu finden schien. Andrerseits finden sich in dem Brief deutliche Anzeichen einer Rückbesinnung auf das katholische Glaubensgut. In dieser Hinsicht besonders war für ihn die Begegnung mit der 18-jährigen Luise Hensel, in die er sich verliebte und die er heftig umwarb, sehr prägend. Als er auf sie traf, befand sich Luise Hensel, die protestantische Pfarrerstochter, in einem Prozess der Annäherung an die katholische Kirche. Ihr Wirken, besser gesagt ihr Drängen, eröffnete Brentano den Weg, selbst wieder in den Schoß der Kirche zurückzukehren. Im Februar 1817 legte Brentano in der Berliner Hedwigskirche eine Generalbeichte ab. Auch wenn sich Brentano nunmehr wieder mit seiner Kirche versöhnt hatte, trug sein intensives Werben um Luise Hensels Hand keine Früchte. Die feinfühlige und introvertierte junge Frau wollte Brentanos vereinnahmendem Drängen nicht nachgeben, was diesen bitter kränkte. In jenen Jahren entstand ein Gedicht Brentanos, das den Namen Als ich in tiefen Leiden trägt: „Als ich in tiefen Leiden / Verzweifelnd wollt ermatten, / Da sah ich deinen Schatten / Hin über meine Diele gleiten, / Da wusst ich, was ich liebte, / Und was so schrecklich mich betrübte, / O Wunder aller Zierde, / Du feine ernste Myrte.“ 8 In unnachahmlich scharfsinniger Weise illustriert Brentano hier, der diese Situation selbst viele Male durchlebte und durchlitt, dass der Grat zwischen Liebe und Leiden, Glück und Verzweiflung äußerst schmal sein kann.

Luise Hensel konvertierte 1818 zum katholischen Glauben. Sie blieb Zeit ihres Lebens unverheiratet und arbeitete als Erzieherin und Pflegerin, bis sie 1876 starb. Aus ihrer Feder stammt unter anderem das berühmte Abendgebet Müde bin ich, geh zur Ruh, schließe beide Augen zu.

Die Zurückweisung, die Brentano von Luise Hensel, machte ihn ruhelos und verstärkte in ihm das Gefühl des Getriebenseins. Hinzu kam, dass er seine Existenz als Schriftsteller immer mehr infrage stellte. Aufschluss über diese Selbstzweifel gibt seine bekannteste Erzählung Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl aus dem Jahre 1817. Sie gehört gleichzeitig zu den schönsten Erzählungen, die eine deutsche Dichterhand jemals hervorgebracht hat. Brentano schuf in ihr eine dunkel-düstere, von Weltschmerz durchdrungene Atmosphäre, in die er eine Handlung über die Begriffe der wahren und der falschen Ehre, der Gnade und der Gerechtigkeit entwickelt. In Bezug auf seine Selbstzweifel interessant sind seine Gedanken zur schriftstellerischen Existenz, die er in die Handlung einarbeitete. Er schrieb: „Es ist wunderbar, dass ein Deutscher sich immer ein wenig schämt, zu sagen: er sei ein Schriftsteller; […] Doch diese nicht deutsche Sitte ist es nicht allein, welche das Wort Schriftsteller so schwer auf der Zunge macht, (…) , sondern eine gewisse innere Scham hält uns zurück, ein Gefühl, welches jeden befällt, der mit freien und geistigen Gütern, mit unmittelbaren Geschenken des Himmels Handel treibt.“ 9 Auch wenn Brentano zweifelsohne seinen Glauben wiedergefunden hatte, so konnte er trotz dessen vorerst seinen inneren Frieden nicht finden, nach dem er sich doch insgeheim sehnte.

Bann und innere Zerrüttung: Die Begegnung mit Anna Katharina Emmerick Im September 1818 eröffnete sich für Brentano die Möglichkeit, in Dülmen im Münsterland die stigmatisierte ehemalige Augustinerinnennonne Anna Katharina Emmerick aufzusuchen, von der er zuvor bereits gehört hatte. Den Anstoß zur Reise nach Dülmen gab Johann Michael Sailer, ein Theologieprofessor, der in Ingolstadt lehrte, und später Bischof von Regensburg wurde. Das Aufeinandertreffen Brentanos mit Emmerick markierte einen tiefen Einschnitt in seinem Leben − er verbrachte die kommenden Jahre in Dülmen und auch sein schriftstellerisches Werk blieb davon nicht unberührt.

Emmerick entstammte einer armen Bauersfamilie. 1802 fand sie Aufnahme in einem Augustinerinnenkloster in Dülmen, welches 1811 im Zuge der Säkularisation aufgelöst wurde. In der Folge arbeitete sie im Haushalt eines aus Frankreich emigrierten Priesters, bis sie selbst bettlägerig wurde. Etwa zeitgleich ereilten die durch einen schweren Unfall Gezeichnete ihre ersten Visionen vom Leben Christi. Als Brentano erstmals auf sie traf, schrieb er tief bewegt: „Alles, was sie sagt, ist schnell, kurz, einfach, einfältig, ganz schlicht, ohne breite Selbstgefälligkeit, aber voll Tiefe, voll Liebe, voll Leben, und doch ganz ländlich, wie eine kluge, feine, frische, keusche, geprüfte recht gesunde Seele.“ 10 Der Dichter fühlte sich zu Emmerick hingezogen, und wie schon so oft zuvor, wenn er einer Frau begegnete, die er verehrte, begann er auch hier Emmerich eine idealisierende Mutterrolle zuzuschreiben. Brentano sah in der Niederschrift der Visionen Emmericks nunmehr seine eigentliche Berufung und Bestimmung und richtete sich auf einen langen Aufenthalt in Dülmen ein. Ihn trieb eine gesteigerte Erlösungssehnsucht, die sich spürbar in der Metaphorik seiner Gedichte jener Zeit niederschlägt, wie auch das Bedürfnis nach einer intensiven Gotteserfahrung nahezu täglich an das Bett der Emmerick. „ Meister, ohne dein Erbarmen / Muss im Abgrund ich verzagen / Willst du nicht mit starken Armen / Wieder mich zum Lichte tragen / […] / Dass des Lichtes Quelle wieder / Rein und heilig in mir flute, / Träufle einen Tropfen nieder, / Jesus, mir, von deinem Blute!“ (aus: Frühlingsschrei eines Knechtes aus der Tiefe).11 Mit einer passiven Rolle als Protokollant der Visionen aus dem Leben Jesu gab sich Brentano jedoch nicht zufrieden. Er stellte gezielt Fragen und strebte nach einer Objektivierung von Emmericks Angaben, um ihnen die Gestalt eines historischen Tatsachenberichts zu geben. Nach der anfänglichen Euphorie, die ihn nach seiner Ankunft erfüllte, und seiner Freude am einfachen Leben der Dülmener Landbevölkerung, befiel ihn nach einiger Zeit hin und wieder ein Gefühl der Einsamkeit und Desillusionierung. Der Tod Emmericks im Jahre 1824 hinterließ in ihm ein Gefühl des Verlorenseins und der Orientierungslosigkeit. Einen guten Eindruck, in welchem Gemütszustand sich Brentano, der sich selbst immer wieder als Pilger bezeichnete, damals befand, vermittelt das Gedicht Einsam will ich untergehn: „Einsam will ich untergehn / Keiner soll mein Leiden wissen / Wird der Stern, den ich gesehn / Von dem Himmel mir gerissen / Will ich einsam untergehn / Wie ein Pilger in der Wüste.“ 12

Sooft der Mond wird scheinen…Gott wolle uns vereinen“ Nach dem Weggang aus Dülmen lebte Brentano an unterschiedlichen Orten und nach einer kurzen Zeit in Frankfurt am Main siedelte er 1833 endgültig nach München über. Hier widmete er sich der Herausgabe der Visionen Anna Katharina Emmericks, die er in seiner Zeit in Dülmen auf tausenden von Seiten zu Papier gebracht hatte. Im August 1833 erschien anonym Das bittere Leiden unsres Herrn Jesu Christi, ihm folgten die Lehrjahre Jesu und postum 1852 Das Leben der heiligen Jungfrau Maria. In München traf der Dichter auch auf die letzte große Liebe seines Lebens: Emilie Linder, die Tochter vermögender Baseler Geschäftsleute. Es war dies eine ähnliche Konstellation wie Jahre zuvor mit Luise Hensel, auch Emilie Linder war zunächst Protestantin und bedeutend jünger als Brentano. Sie war Malerin und konvertierte nach Brentanos Tod zum katholischen Glauben. In der Liebe zu Emilie Linder zeigte Brentano jenes Verhalten, das er schon so oft zuvor bei Frauen an den Tag gelegt hatte, die er verehrte. Er stilisierte und idealisierte Emilie Linder, denn Liebe kannte nach seinem Verständnis „keine Einschränkung, sondern nur eine die ganze Person erfassende Hingabe.“ 13 Diese Erlebnisse an Brentanos Lebensabend gaben seiner späten Lyrik ein unverwechselbares Gepräge, wie etwa hier im Gedicht, das Brentano mit 20. Jenner, nach großem Leid betitelte: „Ich darf wohl von den Sternen singen, / Mich hat die Blume angeblickt, / Und wird mein armes Lied gelingen, / Dann wird vom Stern mir zugenickt.“ Und es schließt: „O Stern und Blume, Geist und Kleid, / Lieb, Leid, und Zeit und Ewigkeit.“ 14 Doch auch sein innerster Wunsch nach einer Ehe ging nicht in Erfüllung. Trotz alledem verband die beiden bis Brentanos Lebensende eine tiefe und herzliche Freundschaft. Am 28. Juli 1842 starb Clemens Brentano, der schwer am Herzen erkrankt war, im Hause seines Bruders in Aschaffenburg. Was bleibt also von Brentano? Er war mit Sicherheit ein sensibler und feinfühliger Mensch, der Zeit seines Lebens mit dem Umstand zurechtkommen musste, dass er intensiver fühlte und lebte als die meisten Menschen um ihn herum. Brentano besaß einen sehr liebevollen und fürsorglichen Charakter, der jedoch eruptiv auch in sein Gegenteil umschlagen konnte. Er starb letzten Endes versöhnt mit seiner Kirche, aber seine Gottesbeziehung war nie gänzlich von Spannungen frei. Auf dem Gebiet der Literatur machte sich Brentano vor allem wegen seiner Sprache berühmt, welche von einer melodischen Ausdruckskraft, Klangfülle und Musikalität durchdrungen ist, die seinesgleichen sucht. Beispielhaft hierfür steht unter anderem die Dichtung Der Spinnerin Nachtlied aus dem Jahre 1802: „Es sang vor langen Jahren / Wohl auch die Nachtigall, / Das war wohl süßer Schall / Da wir zusammen waren. / Ich sing und kann nicht weinen / Und spinne so allein, / Den Faden klar und rein / So lang der Mond wird scheinen./ […] / So oft der Mond mag scheinen, / Gedenk ich dein allein, / Mein Herz ist klar und rein, / Gott wolle uns vereinen. / […] / Gott wolle uns vereinen, / Hier spinn ich so allein, / Der Mond scheint klar und rein, / Ich sing und möchte weinen.“ 15

Unser Dichter konnte auf ein wechselvolles Leben aus Höhen und Tiefen zurückblicken. Deshalb liegt es im Bereich des Denkbaren, dass sich Brentano am Ende seines Lebens an die fast seherischen Worte von Goethes Mutter − die Familien Goethe und Brentano waren einander bekannt – zurückerinnern mochte, die sie ihm nach eigenem Zeugnis in jungen Jahren mit auf den Lebensweg gab. Sie sagte: „Dein Reich ist in den Wolken und nicht von dieser Erde, und so oft es sich mit derselben berührt, wird’s Tränen regnen.“ 16

1 Brentano, Clemens: Gedichte. Hg. von Hartwig Schultz. Stuttgart 1995, S.105.

2 Brentano, Clemens: Godwi oder das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter Roman. Hg. von Ernst Behler. Stuttgart 1995, S.486.

3 Scholz, Günter: Clemens Brentano. Poesie, Liebe, Glaube. Münster 2012, S.29-31.

4 Brentano, Clemens: Gedichte. Hg. von Hartwig Schultz. Stuttgart 1995, S.83-84.

5 Scholz, Günter: Clemens Brentano. Poesie, Liebe, Glaube. Münster 2012, S.53.

6 Brieger, Anton: Clemens Brentano. Weg und Wandlung. Stein am Rhein 2006, S.343.

7 Safranski, Rüdiger: Romantik. Eine deutsche Affäre. Frankfurt a. Main 2009, S.13.

8 Brentano, Clemens: Gedichte. Hg. von Hartwig Schultz. Stuttgart 1995, S.170.

9 Brentano, Clemens: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. Hg. von Gerhard Schaub. Stuttgart 2003, S.13.

10 Scholz, Günter: Clemens Brentano. Poesie, Liebe, Glaube. Münster 2012, S.65.

11 Brentano, Clemens: Gedichte. Hg. von Hartwig Schultz. Stuttgart 1995, S.107.

12 Brentano, Clemens: Gedichte. Hg. von Hartwig Schultz. Stuttgart 1995, S.140.

13 Scholz, Günter: Clemens Brentano. Poesie, Liebe, Glaube. Münster 2012, S.118.

14 http://www.hs-augsburg.de/~harsch/germanica/Chronologie/19Jh/Brentano/bre_1835.html

15 Brentano, Clemens: Gedichte. Hg. von Hartwig Schultz. Stuttgart 1995, S.59.

16 Scholz, Günter: Clemens Brentano. Poesie, Liebe, Glaube. Münster 2012, S.14.

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