Freitag, 13. Dezember 2024

Lukastag

Der hier dargestellte Markus mit Löwen und Buch, auf dem der berühmte Spruch prangt, den auch die Republik Venedig als den ihren annahm, war immer mal wieder Teil des Diariums. Unverschämt wie der Löwe ist, hat er den armen Lukas, den der Stier auszeichnet, dabei immer wieder herausgeschnitten. Der Lukastag beginnt also mit einer kleinen Apologie.

Die Komposition ist in vielerlei Hinsicht interessant. Markus hat sein Evangelium offensichtlich beendet; er und sein Evangelistentier blicken in Richtung des Zuschauers. Lukas dagegen ist noch in der Schreibarbeit vertieft, der Stier sieht ihm bei der Arbeit zu. Markus liegt im Vordergrund und ist zugewandt, Lukas sitzt im Hintergrund und wirkt abgewandt. Der Löwe ist ganz vorne, der Stier ganz hinten im Bild. Markus Gewand leuchtet in flammendem rot, Lukas Kleidung in kühlem blau. Im Mittelalter – und auch der frühen Neuzeit – war es nicht selten, dass man den vier Evangelisten auch die vier Gemüter bzw. Temperamente zuordnete. Den Löwen bzw. Markus verband man mit der gelben Galle, der Chole, den Stier bzw. Lukas mit dem Schleim, also Phlegma. Auch darin spiegelt sich der Kontrast zwischen Feuer und Wasser, zwischen rot und blau wieder. Der in seinem Wesen eher aufbrausende Löwe und der geruhsame Stier runden die Komposition ab: einerseits finden wir hier Gegensätze vor, in anderer Hinsicht Harmonie. Die Evangelistentiere rahmen das Bild ein.

Auch von ihren Biographien her sind Markus und Lukas zwei sehr verschiedene Personen, die dennoch untrennbar zusammengehören. Markus ist der erste Evangelist: er ist jener, der die „Idee“ zu einem Buch über Jesus Christus hatte. Er schildert vor allem die wichtigsten Passagen: die Taufe, die Wunder, die Passion. Sein Evangelium ist zugleich das kürzeste und stilistisch das am häufigsten bemängelte. Markus steht Petrus nahe und hat sich wohl auch einmal mit Paulus zerstritten.

Dagegen erscheint Lukas als der feinere Charakter. Er ist Arzt und die hellenistische Tradition sticht bei ihm deutlich hervor. Er baut auf dem Markusevangelium auf, gibt seinem eigenen Buch aber einen besonderen Anstrich: bei ihm finden wir ein Kindheitsevangelium, dazu die Feldpredigt (Lukas‘ Version von der Bergpredigt) und die berühmtesten Gleichnisse kennen wir aus seiner Schrift. Während Markus nach der Auferstehung abbricht,* begleiten wir mit Lukas die christliche Gemeinde noch länger – was bei Markus ein Geheimnis bleibt, wird bei Lukas offenbar.

Die Emmausgeschichte, das Treffen der Jünger in Jerusalem und die Himmelfahrt sind jedoch nur ein Anfang. Das Lukasevangelium bildet bereits das längste des Kanons, aber der Evangelist geht noch weiter: mit der Apostelgeschichte fügt Lukas dem Neuen Testament ein weiteres Buch hinzu, das sich vom Genre trotz der übernatürlichen Erscheinungen an die griechische Geschichtsschreibung anlehnt. Kein anderer Autor hat der Christusgeschichte so seinen Stempel aufgedrückt, etwa ein Viertel des Neuen Testamentes stammt allein aus seiner Feder. Lukas ist deswegen auch als Schutzpatron der Historiker (ob nun der Apostelgeschichte oder der der Fabulierlust wegen – das darf jeder für sich selbst entscheiden). Das Griechisch des Lukas gilt als das geschliffenste der Bibel. Während Markus Petrus begleitete, war Lukas ein Gefährte des Paulus.

Auch bei einigen christologischen Aussagen lassen sich interessante Unterschiede zwischen beiden Evangelisten feststellen. Bei Markus erscheint Jesus als der Sohn Gottes und Messias, der Wunder wirkt und gegen das Böse kämpft, aber am Kreuz grausam ermordet wird. Lukas dagegen legt Wert auf die Armenfürsorge, auf Vergebung der Sünden, auf den sozialen Aspekt. Während Christus am Kreuz klagt „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ erleben wir bei Lukas jenen Christus, der den Vater darum bittet, zu vergeben, weil sie nicht wüssten, was sie tun; der dem reuigen Verbrecher am Kreuz verspricht, noch mit ihm ins Paradies zu kommen; und der zuletzt seinen Geist in die Hände des Vaters legt. Wenn das Altertum und das Mittelalter markianische bzw. mattheische Zeitalter waren, dann ist das heutige vor allem lukanisch geprägt.

Selbst das Datum der beiden Namenstage liegt auf der jeweils anderen Seite des Kalenders: 25. April und 18. Oktober sind nahezu 6 Monate entfernt, das Gegenteil zum Frühling ist der Herbst.

Dennoch: obwohl Lukas in vielen Punkten dem Markus das Wasser abgräbt, bleibt er eher ein Unbekannter im allgemeinen Gedächtnis der Kirche. Während in Venedig der prächtige Markusdom jenseits der Grenzen Italiens Berühmtheit genießt, besitzt Lukas keinen ähnlichen Prachtbau. Selbst mittelalterliche oder frühneuzeitliche Lukaskirchen sind eher selten. Viele alte Kapellen gehörten früher den verschiedenen Malergilden Europas an, die man auch „Lukasgilden“ nannte. Ein Großteil dieser alten Gilden- oder Zunftkapellen wurden im Zuge der Säkularisierung und der Aufhebung der Gilden zerstört. Der Legende nach war es Lukas, der die ersten Marienbilder malte, in der Orthodoxie verehrt man ihn als Erfinder der Ikonen.

Was ist mit Lukas geschehen? Wie bei Matthäus verliert sich seine Spur lange Zeit in der Geschichte. Während Markus als Gründer der ägyptischen Gemeinde als erster Bischof von Alexandria stets hohes Renommee genoss, stirbt Lukas vor dem Ende des 1. Jahrhunderts im griechischen Theben. Da er anders als Markus kein Bischof mit eigenen Anhängern war und auch keinen brutalen Märtyrertod fand, scheint sich um sein Grab kein so großer Kult entwickelt zu haben wie um den Löwenevangelisten. Zu Beginn des 4. Jahrhunderts werden seine Gebeine nach Konstantinopel übertragen, wo sie zusammen mit einer von ihm gemalten Marienikone verwahrt wurden. Ab dem Mittelalter finden sich die Reliquien dann plötzlich im italienischen Padua. Wie die Überreste den Weg von der Hauptstadt des Byzantinischen Reiches nach Norditalien fanden, ist bis heute kein endgültig gelöstes Rätsel. Bereits Mitte des 14. Jahrhunderts nahm Kaiser Karl IV. den Totenschädel mit ins Reich. In Prag, der Hauptstadt seiner Ländereien, wurde das Lukashaupt bald Bestandteil der Reliquien im dortigen Veitsdom.

1992 wendet sich der orthodoxe Metropolit von Theben an den Bischof von Padua. Man bittet um ein Stück jenes heiligen, der ursprünglich in Theben gestorben war. Der ökumenischen Bitte wird eine Kommission vorangestellt: bevor man einen Knochen des Evangelisten Lukas abgibt, will man feststellen, ob der Tote im Grab tatsächlich der Gesuchte ist. Im Gegensatz zu frühneuzeitlichen Reliquienhehlern venezianischer Herkunft will man die griechischen Brüder schließlich nicht prellen. Dazu wird sogar der Schädel aus Prag angefordert. Erste Untersuchungen bestätigen bereits, dass der Kopf aus dem Veitsdom tatsächlich dem Toten in Padua gehörte. Die Wissenschaftler stellen bei weiteren Forschungen fest, dass der Körper zwischen 70 und 85 Jahren alt war, als er starb.

Der Todeszeitpunkt wurde zwischen den Jahren 416 v. Chr. und 72 n. Chr. datiert, was zwar eine vollständige Identifikation nicht möglich macht, zugleich aber eine mittelalterliche Fälschung ausschließt. Münzen aus dem 3. Jahrhundert, die im Sarg lagen, bestätigen, dass die Reliquien schon vor der Überführung nach Konstantinopel verehrt wurden. Lukas ist damit der einzige Evangelist, von dem wir möglicherweise einen wissenschaftlich nachweisbaren Leichnam haben. Gegen eine Untersuchung des Markuskörpers in Venedig wehren sich bis heute Stadt und Kirche.

Doch auch hier wird Lukas ungerechte Behandlung zuteil. Während der Schädel eine Nebenreliquie im Dom des Heiligen Vitus ist, liegt der restliche Evangelistenkörper in einer Nebenkapelle von Santa Giustina. Ausgerechnet Santa Giustina ist jedoch die Schutzpatronin Paduas und genoss in der Republik Venedig wie auch anderen Teilen Norditaliens große Verehrung. Nur einige Straßen weiter steht die massive Basilika des Heiligen Antonius von Padua, einem der beliebtesten Heiligen der katholischen Welt. Der arme Lukas dagegen wird in seinem kleinen Seitenkappelchen nahezu vergessen. Aber Sie wissen ja: so geht es Schriftstellern, Malern und Historikern nicht selten …

Meinem Freund Lukas gewidmet.

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*Der sog. Sekundäre Markus-Schluss wurde erst in späteren Jahrhunderten angefügt.

Marco Fausto Gallina studierte Politik- und Geschichtswissenschaften in Verona und Bonn. Geboren am Gardasee, sozialisiert im Rheinland, sucht der Historiker das Zeitlose im Zeitgeistigen und findet es nicht nur in der Malerei oder Musik, sondern auch in der traditionellen italienischen Küche. Katholische Identität und europäische Ästhetik hängen für ihn dabei unzertrennlich zusammen. Unter den Schwingen des venezianischen Markuslöwen betreibt er seit 2013 sein Diarium, den Löwenblog.

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