Freitag, 13. Dezember 2024

Der Stern von Montserrat

Religion – und besonders das Christentum – ist immer Teil einer höheren, ewigen Ästhetik. Diese Ästhetik widerspricht dem heutigen Ideal der Mittelmäßigkeit der Masse, da alles, was außergewöhnlich und entkoppelt von der Gegenwart erscheint, in den Ruch des Elitären gerät. Die abendländische Kunst atmet nicht im Jahrhunderttakt, sondern sehnt sich nach dem Ewigen. In den ältesten Kirchen Syriens erblicken wir diese Sehnsucht nach der Kunst bereits in der ersten Hauskirche. Sie schaut uns durch die Augen von Raffaels Sixtinischer Madonna an. Sie tönt in Beethovens Credo, trauert in Michelangelos Pietà und singt in den Canzonen von Dantes Göttlicher Komödie. Im Stein tausender Dome und Kathedralen nimmt sie die Form irdischer Gestalt als Leiter zum Himmel an.

Ein Sehnsuchtsort der Symbiose von Kunst und Ewigkeit erhebt sich auf den Klippen von Montserrat. Hellgrüne Sträucher verdecken die Steilhänge des Fingermassivs nur als Einsprengsel in der felsigen Landschaft. Wie aus dem Stein gehauen thront dort das Marienkloster von Montserrat. Dreißig Meilen von der Hauptstadt Barcelona entfernt, gilt dieser Ort als ein nationales Symbol der Region Katalonien. Der Legende nach fand ein Schäferjunge eine schwarze Marienstatue in einer Gebirgshöhle. Da die Madonnenfigur auf wundersame Weise zu schwer zur Überführung erschien, verfügte der Bischof eine Klostergründung am selben Ort. Ab dem Beginn des 11. Jahrhunderts ist eine Benediktinergemeinschaft in Montserrat nachweisbar. Die „Schwarze Madonna“ wurde zur Schutzpatronin Kataloniens und machte Montserrat zum Wallfahrtsort.

Im Schatten des berühmten Jakobsweges scheint diese Pilgerroute heute fast vergessen. Dabei endete hier vor einem halben Jahrtausend die beschwerliche Reise eines einstigen Ritters. Bei der Belagerung von Pamplona 1521 zerschmettert eine Kanonenkugel seine Beine. Der spanische Draufgänger war wochenlang ans Bett gefesselt, wo die Ärzte seine Brüche fixierten und die Knochen erneut brachen – in einer Zeit ohne Schmerz- oder Narkosemittel. Nach der Operation blieb ein Bein kürzer als das andere, seine Militärkarriere war beendet. Auf dem Krankenbett nur mit geistlicher Literatur ausgestattet, beschloss er darauf, sein Leben zu ändern, und hinkte über die Pilgerroute nach Montserrat. Hier, am Marienaltar, hat er während der nächtlichen Vigil ein spirituelles Erlebnis – und trennt sich nach dreitägiger, vollumfänglicher Beichte von Schwert und Degen, die er der Maria überlässt.

Der reuige Ritter ist Ignatius von Loyola. Als Ordensgründer der Jesuiten wird er zu einer der Ikonen der Frühen Neuzeit. Die Societas Jesu wird zu einer der wichtigsten Impulsgeber in der Zeit der katholischen Erneuerung. Als „Schlaue Jungs“ bekämpfen Ignatius’ Nachfolger die Reformation in Europa und drängen sie in Polen entscheidend zurück. Jesuitische Missionare dringen in die Urwälder der Neuen Welt vor und bereisen Indien, China und Japan. Die Kontinuitätslinie führt heute vom katalanischen Bergkloster bis in den römischen Vatikan, wo ein Jesuit auf dem Stuhle Petri sitzt.

Montserrat ist damit nicht nur ein Symbol katalanischen Stolzes, angefangen von den Grafen Barcelonas über das aragonesische Königreich bis hin zum Widerstand gegen Franco, als Dissidenten hier Unterschlupf fanden und die Messen in der damals verbotenen katalanischen Sprache abgehalten wurden; das Marienkloster ist ein Teil des gesamtkatholischen Kosmos, an dem sich Spiritualität und Ästhetik treffen. Letzteres nicht nur auf architektonische Weise, wenn Bauwerk und Natur zur Symbiose finden; nicht nur auf im Hinblick auf Madonna selbst, deren schwarzes Pappelholz von einem goldenen Gewand verhüllt wird; nicht nur bezüglich des Museums, wo neben anderen Preziosen ein „Hieronymus“ des Barockmalers Caravaggio hängt.

Von Jordi Savall – Katalane und einer der versiertesten Interpreten Alter Musik – stammt das Diktum: »Musik ist die Sprache, die der Mensch erfunden hat, um mit Gott zu sprechen.« Nicht auszuschließen, dass Savall mit dem Ort dieser Entstehung das katalanische Nationalheiligtum in Sinn hatte. Der wertvollste Besitz des Klosters ist ein mittelalterliches Manuskript aus dem späten 14. Jahrhundert. Der rote Einband aus dem 19. Jahrhundert hat ihm dessen Namen verliehen: Llibre Vermell de Montserrat (Rotes Buch von Montserrat).

Das Llibre Vermell bricht dabei mit dem Musik-Klischee des Mittelalters und üblicher Kirchenmusik. Die Gesänge sind von einer volkstümlichen, vitalen Stilrichtung, die für Unkundige manchmal orientalische Anklänge hat. Aus der Musik bricht jene völlige Natürlichkeit des religiösen Seins Alteuropas heraus, zu der viele Menschen keinen Zugang mehr haben. Dabei klingt das Llibre Vermell niemals profan, sondern spricht immer noch die Sprache des Mittelalters, in der Gott im Zentrum des Lebens steht. Die Texte sind in Latein, Katalanisch und Okzitanisch verfasst.

Das Besondere am „Roten Buch“ sind jedoch die Melodien. Sie haben deswegen volkstümlichen Klang, weil sie tatsächlich aus dem Volk stammen. Im Mittelalter vertrieben sich die Pilger die Wartezeit mit Musik und Tanz. Die „weltlichen“ Texte waren dabei wohl dem Abt ein Dorn im Auge. So finden wir am Anfang des Llibre Vermell den Vermerk:

„Da es vorkommt, dass die Pilger, die in der Kirche der heiligen Maria in Montserrat Nachtwache halten, singen und tanzen wollen, und dies auch tagsüber auf dem Kirchplatz, und sie dort nur sittliche und andächtige Lieder singen dürfen, sind einige hier niedergeschrieben. Diese sollten mit Rücksicht und Mäßigung verwendet werden, damit jene nicht gestört werden, die ihrem Gebet und geistlichen Kontemplationen nachgehen möchten …“

Llibre Vermell

Heißt: wenn die Pilger ihre Balladen, Liebeslieder, Rundtänze und Volkswaisen singen, dann doch bitte mit Texten, die wir vorgeben. Das Christentum bekleidete die weltlichen Melodien mit geistigen Texten. Dadurch verloren sie ihren säkularen Charakter, der nur in Jahrhunderten denkt, und erhielten den der Ewigkeit. Hätten die Mönche von Montserrat nicht diesen Mittelweg zwischen Frömmigkeit und mittelalterlichem Leben gefunden, die Melodien wären wie die meisten Stücke der damaligen Musik verloren gegangen. Andere Stücke (O virgo splendens/Stella splendens) bestimmt dabei eine Aura des Chors oder Kanons, was eine originäre Komposition für genau diesen Zweck vermuten lässt.

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Polorum Regina. Text mit deutscher Übersetzung hier.

Die Liedstücke verherrlichen dabei in besonderem Maße die Gottesmutter und die Wunder des Evangeliums. Sie ermöglichen nicht nur einen Blick in die damalige Volksmusik, sondern auch die religiösen Vorstellungen im Volk. Maria erhält dabei eine Vielzahl an Ehrennamen: Stern; Kaiserin der freudigen Stadt; Königin der Himmel; leuchtende Jungfrau; strahlende Herrscherin. Die Ehrennamen beziehen sich auf ein Lichtwunder, das im 14. Jahrhundert von mehreren Pilgern beobachtet wurde. Interessant dabei auch die mehrfache Wiederholung des Wunders der unbefleckten Empfängnis, welche als Dogma erst 1854 von der katholischen Kirche festgelegt wurde, aber bereits im 14. Jahrhundert allgemein akzeptiert wurde. So lesen wir bei Polorum Regina:

Unsere Königin aller Himmel,
Morgenstern, nimm unsere Sünden hinweg.
Vor der Geburt, Jungfrau, befruchtet durch Gott,
verbliebst du immer unversehrt.
Auch bei der Geburt, Jungfrau, fruchtbar durch Gott,
verbliebst du immer unversehrt.
Auch nach der Geburt, Jungfrau, Mutter,
verbliebst du immer unversehrt.

Polorum Regina

Los set gotxs recomptarem – die „Sieben Freuden Mariens“ – stechen aus den anonymen Schriften des Llibre Vermell aufgrund ihrer balladenartigen Komposition hervor. Dem Stück haftet in seiner Festlichkeit und seinem Rhythmus eine jahrhunderteumspannende Vitalität an, gegen die neuerliche Kompositionen der letzten Generation im Sinne der Kirchenmusik völlig verblassen. Der mittelalterlich-katalanische Text handelt in mehreren Strophen die verschiedenen Wunder und Freuden im Leben Mariens ab; das dazugehörige Fest, Maria Lätitia, das im Mittelalter am 5. Juli begangen wurde, fristet dagegen heute ein Schattendasein. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch der meditative Charakter des Refrains „Ave Maria, gratia plena, dominus tecum, virgo serena“; eine zumindest weitläufige Verwandtschaft mit dem Rosenkranzgebet darf man zumindest annehmen, da hier eine abgewandelte Form des Ave Maria mit der Betrachtung von Freuden/Geheimnissen einhergeht. Diese sind:

– Die unbefleckte Empfängnis

– Die Geburt des Gottessohnes

– Der Besuch der Heiligen Drei Könige

– Die Auferstehung Christi

– Die Himmelfahrt Christi

– Das Pfingstwunder

– Die Aufnahme Mariens in den Himmel

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Savall äußerte zudem, dass die Ballade Ähnlichkeiten mit den italienischen Balladen der Ars Nova aufweise. Dementsprechend dürfte die Entstehungszeit eher im Beginn des 14. Jahrhunderts liegen; und es könnte zudem sein, dass die Inspiration des Stückes auf Pilger aus dem (nord)italienischen Sprachraum zurückgeht; Montserrat war ein beliebtes Ziel lombardischer Pilger.

Das Virelai (Kreistanz) „Cuncti simus concanentes“ besingt mit eingängiger Melodie das Geheimnis der Verkündigung. Die drei Strophen und der Refrain schließen stets mit einer litaneiähnlichen Antwort: Ave Maria. Der Engel erscheint „mit glänzendem Gesicht“, er heißt Gabriel; er verkündet die Geburt eines Kindes; es wird ein Sohn sein, und sie wird ihm den Namen Jesus geben. Das kurze Stück mit seinen Wiederholungen veranschaulicht wie auch die anderen Lieder ein Muster des Mittelalters, welches der Reformation (besonders ihrer calvinistischen Strömung) fremd blieb: nur, weil das Volk nicht lesen und schreiben konnte, bedeutete dies nicht, dass es keine Ahnung von der Bibel hatte.

Die Heilige Schrift war nur ein Zugang zu Christus: Zugang zum Glauben speiste sich nicht nur aus dem Bibelwort, sondern aus dem Zusammensein (Lasst uns gemeinsam singen: Ave Maria!), aus dem freudigen Gesang, aus der bildlichen Darstellung. Auch ein Analphabet konnte die wichtigsten Wunder und Lebensstationen Christi im Liedgut mitsingen und verinnerlichen – das zeigt schon allein der Umstand, dass nicht alle Stücke auf Latein waren.

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Es ist dabei nicht auszuschließen, dass der Heilige Ignatius auch auf seiner Pilgerreise nach Montserrat eben diese Gesänge hörte. Denn ausgerechnet vor der Vigil, bei der er seine Eingebung hatte, schien das Liedgut noch in Gebrauch. So notiert Pater Pere de Burgos noch 1514:

„Nach dem Gesang der Komplet hielten sie (die Wallfahrer) Nachtwache in der Kirche, wo sie verschiedene Kreise bildeten und zu Ehren der Königin der Engel zum Teil mit ungeübten Stimmen, aber guten Absichten musizierten und ich viele frommen Lieder sangen.“

Pater Sunyol fügt hinzu:

„Die Zahl der die ganze Nacht, während die Mönche nicht sangen, Wache haltenden Pilger war so groß, dass die meisten von ihnen nicht in die damals kleinere Kirche passten und im Kreuzgang blieben […], wo sie gewiss noch mehr als in der Kirche selbst zu den erwähnten Liedern tanzten.“

Richtig gelesen. Die Pilger tanzten damals weiterhin ihre Rundtänze, auch im Altarraum. Ob dies den Heiligen Ignatius zuletzt zu seiner Bekehrung von Heiden und Häretikern animierte, bleibt hingegen reine Spekulation.

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