Was es mit der „Benedict Option“ auf sich hat – und was uns das angeht.
Ein Gastbeitrag von Dr. Tobias Klein.
Alljährlich vermitteln die offiziellen Statistiken der katholischen Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ein mittlerweile allzu vertrautes Bild: Die Mitgliederzahlen der großen Kirchen schrumpfen – nicht nur durch Austritte, sondern mehr noch dadurch, dass konstant mehr Kirchenmitglieder sterben als neue aufgenommen werden –; und eine überwältigende Mehrheit der verbliebenen Kirchenmitglieder nimmt nicht oder nur gelegentlich am Gottesdienst teil. Werden in Umfragen die religiösen Überzeugungen der Bevölkerung erfasst, zeigt sich zudem, dass ein signifikanter Teil selbst der aktiven Kirchenmitglieder wesentliche Glaubensinhalte ihrer Konfession nicht teilt oder nicht einmal kennt. Ein ebenso vertrautes Bild geben die öffentlichen Reaktionen auf solche Statistiken ab, die sich in aller Regel um die Frage drehen, was die Kirche als Institution tun könne oder müsse, um „gesellschaftlich relevant“ zu bleiben (oder wieder zu werden); wie sie sich „modernisieren“ müsse, um wieder „näher an den Menschen“ und ihren „Bedürfnissen“ zu sein.
Wir leben längst in einer „post-christlichen“ Gesellschaft
Einen radikal anderen Ansatz verfolgt der US-amerikanische Journalist und Blogger Rod Dreher in seinem aktuellen Buch „The Benedict Option“. Gläubige Christen, so meint Dreher, hätten sich allzu lange vor der Erkenntnis gedrückt, dass sie längst in einer „post-christlichen“ Gesellschaft leben, und hätten es daher versäumt, Strategien dafür zu entwickeln, ihren Glauben in einer Umwelt, die diesem teils gleichgültig, teils offen feindselig gegenübersteht, bewahren und an ihre Kinder weitergeben zu können.
Für den Verlust religiöser Bindungen in den westlichen Gesellschaften macht Dreher langfristige kulturelle Trends verantwortlich, die, unterstützt durch ökonomische und technologische Entwicklungen, einen immer radikaleren Individualismus und Relativismus fördern. Gegen diese kulturellen Einflüsse sind, wie Dreher betont, auch gläubige Christen nicht immun. Um nicht von der säkularen Gesellschaft „assimiliert“ zu werden, so folgert er, müssen Christen daher bestrebt sein, in ihrem unmittelbaren Umfeld „gegenkulturelle“ Strukturen aufzubauen, die es ihnen ermöglichen, sich gegenseitig im Glauben zu stärken.
Praktiziertes Christsein als „Zeichen des Widerspruchs“
Dabei legt der Autor Wert auf die Feststellung, dass es nicht das Ziel einer „christlichen Gegenkultur“ sein könne bzw. dürfe, sich völlig von der nichtchristlichen Außenwelt abzuschotten. Im Gegenteil gehöre es wesentlich zu den Aufgaben des Christen in den post-christlichen westlichen Gesellschaften, in der Interaktion mit Nicht- und Andersgläubigen Zeugnis für seinen Glauben abzulegen. Jedoch können Christen laut Drehers Überzeugung nur und gerade dann missionarisch wirken, wenn sie sich durch ihr Christsein auffallend von ihrer nichtchristlichen Umwelt unterscheiden. Ein zentrales Erfordernis des christlichen Lebens inmitten der post-christlichen Kultur sei es daher, aufzuhören, „normal“ sein zu wollen. Es sei ein schwerwiegender Fehler, wenn Kirchen sich in ihrem Streben nach gesellschaftlicher Akzeptanz dem säkularen Mainstream anzunähern versuchten, sei es in den Inhalten oder auch nur im Stil ihrer Selbstrepräsentation. Eine solche Anpassung beraube einerseits das christliche Zeugnis seiner Kraft, die gerade darin liege, ein Zeichen des Widerspruchs zu sein, und liefere andererseits die eigenen Gläubigen schutzlos den korrumpierenden Einflüssen der säkularen (Post-)Moderne aus. Vielmehr sei es notwendig, sich in Glaubenslehre und -praxis auf die jeweils eigene konfessionelle Tradition zu besinnen und das persönliche Glaubensleben wie auch die Gemeinschaft der Gläubigen untereinander zu intensivieren.
Der Buchtitel „The Benedict Option“ bezieht sich nicht, wie man zunächst annehmen könnte, auf Benedikt XVI. und seine Forderung nach „Entweltlichung“ – wenngleich Dreher den emeritierten Papst mehrfach zitiert und ihn im Nachwort des Buches als den „zweiten Benedikt der Benedict Option“ bezeichnet –, sondern auf den Hl. Benedikt von Nursia, den Begründer des europäischen Mönchtums. Mit der Gründung monastischer Gemeinschaften im durch die Folgen der Völkerwanderung und des Untergangs des (west-)römischen Reiches erschütterten Europa habe Benedikt – so meint Dreher in Anknüpfung an Thesen des Philosophen Alasdair MacIntyre – eine kulturelle Revolution in Gang gesetzt, die „die Seele Europas gerettet“ habe. Während MacIntyre schreibt, die heutige westliche Welt brauche „einen neuen, wenn auch sicherlich ganz anderen St. Benedikt“, befragt Rod Dreher in seinem Buch die Benediktiner-Ordensregel nach konkreten Impulsen für ein radikal christliches Gemeinschaftsleben inmitten einer glaubensfeindlichen Umwelt. Dabei räumt er ein, dass die strenge, einförmige Ordnung des klösterlichen Lebens sich nicht eins zu eins auf das Leben von Laienchristen in der säkularen Gesellschaft übertragen lässt, zeigt sich aber gleichwohl überzeugt, dass die wesentlichen Kern- und Leitgedanken der Benediktsregel „einfach genug“ seien, dass jeder Christ sie für seine persönlichen Lebensumstände „adaptieren“ könne.
Was die Christen der Gegenwart nach Rod Drehers Auffassung von der Benediktinischen Spiritualität lernen können und sollen, ist, bei allem, was sie tun, Gott in den Mittelpunkt zu stellen. Dafür sei es erforderlich, die beim modernen Menschen typischerweise fragmentierten und chaotischen Abläufe des täglichen Lebens zu ordnen, die Beziehung zu Gott durch eine gewisse geistliche „Routine“ – etwa durch feste Gebetszeiten, die den Tagesablauf strukturieren – zu intensivieren und den Verzicht auf Bequemlichkeiten einzuüben, um die Widerstandsfähigkeit gegen Versuchungen zu stärken. Ein solches spirituelles „Training“ ist nach Drehers Einschätzung dringend notwendig, um die Herausforderungen der Gegenwart und nahen Zukunft zu bestehen. Zugleich lehre die Benediktsregel den spirituellen Wert körperlicher Arbeit und die Bedeutung von Gemeinschaft und Gastfreundschaft.
Eine Reform, die im eigenen Herzen beginnt
Im Fokus von Drehers „Benedict Option“ stehen praxisorientierte Anregungen zum community building, zum Aufbau „entschieden christlicher“ lokaler Basisgruppen, die als Keimzellen einer christlichen „Gegenkultur“ fungieren sollen. Der Autor führt dazu eine Vielzahl von Beispielen aus dem ländlichen wie auch aus dem urbanen Raum an. Ein „radikal christlicher Lebensstil“ erfordert es laut Dreher durchaus nicht zwingend, in eine Kommune mit landwirtschaftlicher Selbstversorgung zu ziehen; man kann auch einfach damit anfangen, sich in der lokalen Kirchengemeinde zu engagieren und dort etwa einen Gebetskreis oder einen theologischen Lesezirkel zu gründen. Neben Aktivitäten, die darauf abzielen, die katechetische und liturgische Bildung der Gemeinde zu verbessern, können aber auch Aktivitäten eher „geselliger“ Natur – wie etwa regelmäßige Treffen zum gemeinsamen Essen – im kirchlichen community building eine wichtige Rolle spielen. Entscheidend ist, dass alle diese Aktivitäten von einem entschieden christlichen Selbstverständnis der Gemeinschaft getragen werden – und gleichzeitig ein gewisses Maß an Offenheit gegenüber Nicht- und Andersgläubigen wahren.
Jenseits aller Pastoralpläne, epsikopaler „Dialogprozesse“ und Strategiepapiere ist Rod Dreher überzeugt, dass eine Wiederbelebung des vielfach müde und kraftlos erscheinenden Christentums in der westlichen Welt „organisch von unten“ wachsen muss: „ausgehend vom Herzen des Einzelnen und von dort aus weiterwirkend in die Familie, in die Kirchengemeinde, die Nachbarschaft und darüber hinaus“.
In den USA erschien „The Benedict Option“ am 14. März und wurde dort im Handumdrehen zum Bestseller; schon jetzt gilt es als das meistdiskutierte religiöse Buch des Jahrzehnts. Über eine deutschsprachige Ausgabe wird derzeit verhandelt.
Bibliographische Angaben
Rod Dreher: The Benedict Option. A Strategy for Christians in a Post-Christian Nation. New York: Sentinel, 2017. 272 Seiten. ISBN 9780735213296.
Der Autor hat das ja an anderer Stelle sein Lieblingsthema genannt.
In diesem Sinne sei auch zu *meinem* Lieblingsthema ein Sätzchen gesagt:
wir müssen… gar nichts müssen wir! Außer natürlich sterben, aufs Klo und die allgemeinen Regeln der Moral einhalten.