Montag, 29. April 2024

Bericht eines Pilgers: Von Berlin über Prag nach Altötting

Von Dr. Martin Heipertz

Vota mea Domino reddam coram omni populo eius“ – Meine Gelübde will ich dem HERRN erfüllen in Gegenwart seines ganzen Volks (Vg. Ps 115, 5 [EU 116, 18]. Ein Gelübde hatte ich abgelegt: Von Berlin nach Altötting zu pilgern, wenn der Herrgott mich aus beruflichen und politischen Sorgen erretten würde, in die ich im Zuge der Corona-Krise geraten war. Ich pilgerte ohne menschliche Begleitung aber mit einem vierbeinigen Kameraden, dem braven Dackel-Mischling Jakobus, eingedenk des Buches Tobit im Alten Testament: „Der Hund lief mit.“

So viel wie möglich zu Fuß, so wenig wie nötig per Bahn – um im Rahmen der verfügbaren Zeit von nicht einmal drei Wochen die gut 800 Kilometer lange Strecke zu bewältigen. Wir marschierten zwischen 25 und 40 Kilometer am Tag und schafften auf diese Weise etwa 500 Kilometer zu Fuß, nur einzelne Teilstrecken mit dem Zug überbrückend.

Der Hund wollte jeden Nachmittag etwa ab dem 20. Tageskilometer auf dem Rucksack obenauf getragen werden, was meinen Radius zum Abend hin natürlich begrenzte. Mit 25 Kilogramm auf dem Buckel kam ich mir vor wie in früheren Jahren bei der Bundeswehr; und über drei Wochen hinweg hatte ich eine solche Leistung in meinem Leben noch nicht erbracht.

Es fügte sich, daß die beste Route auf halbem Wege über Prag führte. Prag ist von alters her ein wichtiges Pilgerziel und übte große Anziehung auf mich aus, denn mein geliebter Onkel Angelus war dort Mönch im Kloster Strahov gewesen, bevor die Kommunisten es aufgelöst hatten.

Ich gelangte über den Spreewald, Görlitz und Nordböhmen nach Prag; ab Görlitz durchgehend zu Fuß auf einem wenig bekannten Ableger des Jakobswegs.

Der Spreewald war landschaftlich ungemein reizvoll, aber ich lernte dort auch, daß der auf seinem E-Bike radelnde Rentner der natürliche Feind des Pilgers ist, zumal mit Hund. Fernwanderwege, die mit Radwegen identisch sind, sollte man meiden.

Die Erde zwischen Cottbus und Görlitz, soweit noch nicht vom Tagebau verschlungen, war blutgetränkt: Die Kessel von Spremberg und Kausche im April 1945; ein Genozid, von dem man nicht sprechen darf. Ich betete Rosenkränze für die Opfer des Krieges.

Görlitz erlöste mich von trüben Gedanken, und ich besichtigte dort den sagenhaften Nachbau des Heiligen Grabes, das „Görlitzer Jerusalem“, von dem späteren Bürgermeister Georg Emmerich errichtet, der nach einer frevelhaften Liebschaft ins Heilige Land gepilgert war, um Buße zu tun – und der Verfolgung zu entgehen.

In der Kathedrale St. Jakobus erhielt ich meinen Pilgersegen. Görlitz war wunderschön und viel weniger vom Krieg gezeichnet als die meisten anderen deutschen Städte. Es fiel mir nicht leicht, mich loszureißen – doch bis zur Komplet mußte ich die Zisterzienserinnen im Kloster Marienthal erreichen, die Jakobus und mich voller Herzlichkeit aufnahmen. Es waren nicht mehr viele Nonnen, die dort lebten. Unsere Kultur, die undenkbar wäre ohne viele Jahrhunderte klösterlichen Lebens, geht einer großen Finsternis entgegen.

In der Abenddämmerung überquerten wir bei Zittau den Grenzfluss, die Neiße. Regen setzte ein. Als wir das böhmische Grottau erreichten, brach ein sintflutartiges Gewitter vom Himmel aus. Das Stadtfest, das mich angelockt hatte, wurde von Sturm und Regenfällen hinweggefegt. Bis auf die Haut durchnässt, fand ich Platz in einer Schenke. Wo ich schlafen sollte, wusste ich nicht, aber wenigstens gab es ein warmes Nachtmahl.

Dann folgte der Tiefpunkt meiner Pilgerschaft: Bei Dunkelheit und strömendem Regen auf einer einsamen Landstraße in Nordböhmen. Kilometer um Kilometer zogen wir voran – nirgendwo eine Unterkunft. In den nassen Strümpfen hatten meine Fersen nachgegeben und waren zu offenen Wunden geworden. In völliger Erschöpfung schlug ich in pechschwarzer Nacht das Zelt auf. Der Regen prasselte. Mit dem nassen Hund kroch ich in den Schlafsack.

Doch Gott verlässt die Seinen nicht. Am nächsten Morgen hatte der Regen aufgehört, und bald brachen die ersten Sonnenstrahlen durch die Wolken. Alles war nass, auch mein Tagebuch und mein Tabak. Doch die Lebensgeister kehrten zurück; wir brachen auf und erreichten um die Mittagszeit ein Gasthaus, in dem es Gulasch gab und böhmische Knödel mit böhmischem Bier und eine Heizung, an der Herr und Hund sich trocknen konnten.

Zelten mit Blick auf den Jeschken

Mangels Unterkunft zelteten wir eine weitere Nacht – mit Blick auf den Jeschken-Berg. Leider setzte nachts bis zum Morgen der Regen wieder ein. In der Einsamkeit Nordböhmens zog ich weiter, ganz meinen Gedanken, der Betrachtung und dem Gebet hingegeben, Schritt um Schritt, Kilometer um Kilometer. Die wunden Fersen schmerzten und bluteten, doch ich gewöhnte mich daran und opferte das Ungemach auf.

Ich erreichte Christophsgrund, was zu Recht als die Perle unter den nordböhmischen Dörfern gilt. Ich staunte über den herrlich bemalten, hölzernen Innenraum der Kirche und freute mich, dass in dieser Gegend die deutschsprachigen Inschriften, Epitaphen und Marterln noch nicht überall getilgt waren.

Bis Böhmisch Aicha schaffte ich es noch, doch dann war meine Kraft am Ende, und die blutigen Fersen schmerzten allzu sehr. Unbedingt brauchte ich ein festes Quartier zur Erholung. Auch hier aber hatte die Corona-Pandemie ganze Arbeit geleistet: Kein Wirtshaus, keine Pension, nichts – bis auf einen Tante-Emma-Laden, der von Vietnamesen betrieben wurde. Fröstelnd und bei beißendem Wind aß ich eine kalte Bockwurst und war der Verzweiflung nahe. Ein Stoßgebet.

Da fällt mein Blick auf das wie verlassen daliegende Pfarrhaus von Böhmisch Aicha. Ist das nicht eine Jakobsmuschel, die dort am Fenster angebracht ist? Das Symbol, mit dem mein Weg gekennzeichnet war, von Zittau bis Prag? Tatsächlich – die Jakobsmuschel. Ich wage es und klopfe an. Vielleicht ist doch jemand zugegen? Es dauert, dann höre ich Schritte. Ein freundlicher, älterer Herr öffnet. Er trägt Kollar, ist offensichtlich der Pfarrer. Mit dem ersten Blick und ohne Worte erkennt er mich als Pilger und mein Begehr. „Moment, Moment“, sagt er auf deutsch und lehnt die Tür an.

Kurz darauf erscheint die Haushälterin. Sie spricht fließend Englisch – mit kanadischem Akzent. Eine Rückkehrerin, die in jungen Jahren, wie so viele, unter dem Kommunismus nach Kanada geflohen war. Der Atheismus war fast nirgendwo so aggressiv gewesen wie in der ehemaligen ČSSR. „Dass ihr Pilger immer unangemeldet aufkreuzen müsst“, grummelt sie gutmütig und weist mir das offenbar für diese Zwecke vorgesehene Gästezimmer zu. Ich erhalte frisches Bettzeug und die Ankündigung, dass in zwei Stunden Wasser heiß sei zum Duschen und Wäschewaschen. Bis dahin schlafe ich – zum ersten Mal seit vier Tagen in einem Bett, trocken und warm. Ich danke Gott und falle sogleich in herrlichsten Schlummer. Nach dem Duschen stehen die reichlichen Reste eines Gastmahls auf dem Tisch: Noch einmal Gulasch und böhmische Knödel mit Rotkohl – köstlicher, als ich sie je gegessen habe.

Alle drei bis vier Tage kämen Pilger durch Böhmisch Aicha, erklärte mir die Haushälterin. Und alle würden barfuß durchs Haus laufen und ihre wunden Füße kurieren. Ich fühlte mich dieser unsichtbaren Gemeinschaft verbunden, genoss den Garten des Pfarrhauses und war erfüllt von Dankbarkeit für die Gastfreundschaft.

Tags drauf brachte mich der Pfarrer bis zu der berühmten Jakobskirche von Letarschowitz, deren hölzerne Kassettendecke die gesamte Lebensgeschichte des Pilgerapostels darstellt. Meine Füße schmerzten arg, aber ich schaffte es bei schönstem Wetter etwa 20 Kilometer bis Münchengrätz, einem Sitz der durch eine Beethoven-Sonate und Schillers „Wallenstein“ bis heute bekannten, böhmischen Adelsfamilie Waldstein.

Wie durch ein Wunder hatte das Schloss der Waldsteins alle Kriege und Unruhen überlebt und bot sich mir mit völlig intaktem Interieur im Zustand des 19. Jahrhunderts dar, wie ich es wohl in Frankreich oder England aber kaum in Deutschland je gesehen hatte. Weiter ging es nach Jung-Bunzlau, und langsam näherten wir uns Prag, das nun noch höchstens drei Tagesmärsche entfernt war.

Unterwegs erreichten mich kaum noch Meldungen und Nachrichten zur Lage der Welt. „Pseudoinformationsinflation“ nannte ich den Zustand, dem ich auf diese Weise für die Dauer der Pilgerschaft entronnen war und der meinen Geist befreite, um mich auf Gott sowie auf die einfachsten Fragen des Lebens einlassen zu können: Wo schlafe ich, wo finde ich etwas zu essen, was mache ich bei schlechtem Wetter, bei Erschöpfung? Die Versorgungslage unterwegs war weiterhin schlecht, zum Frühstück diente mir manches Mal nur etwas Obst, das am Wegesrand gereift war.

Das Marschieren ging wieder besser vonstatten, die Fersen heilten trotz der wieder gesteigerten Belastung. Die Landschaft war flach geworden, und wir zelteten am Ufer der Iser. Nun waren es nur noch 25 Kilometer bis Prag. In Alt-Bunzlau und Brandeis war Schulanfang, zahlreiche Kinder mit ihren Familien im Sonntagsstaat fielen mir auf.

Stark erschöpft erreichte ich Prag. Doch neue Kräfte flogen mir zu, als ich durch die Altstadt zog, deren Straßenverlauf mir von früheren Besuchen noch in guter Erinnerung war. Ohne jegliches Suchen gelangte ich zur Karlsbrücke und von dort hinauf auf den Hügel und durch den Garten, an dessen oberen Rand das Kloster Strahov auf mich wartete.

Welche Freude, zur Abendmesse in der herrlichen Barock-Kirche am Grabe des Heiligen Norbert einzutreffen. Jakobus und ich wurden im Pfarrhaus einquartiert, und den ganzen Abend und nächsten Tag führte ich Gespräche und forschte nach den Spuren meines Prager Onkels aus der Zeit der Unterdrückung. Auch das Schicksal meiner Landsleute beschäftige mich – in Prag war bei Kriegsende Fürchterliches geschehen. Nicht nur der damalige Krieg, auch das Unheil unserer Tage – auf einmal war es mir wieder präsent: Mit amerikanischen Soldaten und ihren Familien kam ich ins Gespräch, die von ihren Standorten in Bayern oder Polen aus ein verlängertes Wochenende in der Goldenen Stadt verbrachten.

Nach der Frühmesse erhielt ich vom Prior des Klosters den Segen und brach auf. Es folgte die einzige längere Passage per Bus und Bahn, damit ich im Rahmen meines Zeitplans auf den Jakobsweg im Böhmerwald gelangte. Ich fuhr von Prag bis in das bildschöne Krumau an der Moldau und marschierte von dort aus wieder ausschließlich zu Fuß.

Krumau, obwohl touristisch verdorben, war ein Juwel. Eine völlig intakte Altstadt aus dem Spätmittelalter mit der phantastischen Burg der Familie Schwarzenberg, die nun schon das zweite Exemplar ihrer Art war, das ich auch im Interieur unversehrt besichtigen konnte mit Trakten im Stil der Renaissance, des Klassizismus und des Biedermeier.

Innerlich zog es mich nun mit Macht nach Altötting, dem Ziel meiner Pilgerschaft. Es ging flott voran durch den Böhmerwald, und trotz schwerer Wolken regnete es nicht. Viel Wald und Feld und imposante Schilder, die vor Wölfen warnten! Als die Sonne untergegangen war, erreichte ich den Moldau-Stausee kurz vor Freiberg und nahm ein erfrischendes Bad vor der Nachtruhe. Am Morgen lag Nebel auf dem See – der Sommer hatte seinen Zenit überschritten.

Mit der Fähre ging es hinüber und dann bei kräftiger Sonne immer weiter: ultreia! Schwarzenberg-Kanal und europäische Wasserscheide, dann auf einmal die Grenze nach Niederösterreich. Bei Rohrbach erreichte ich die Wallfahrtskapelle Maria Trost. Zur rechten Zeit, denn ein junger Prämonstratenser aus dem Stift Schlägl las dort gerade mit besonderer, selten gewordener liturgischer Sorgfalt die Abendmesse vor dem wunderschönen Gnadenbild der Gottesmutter und erteilte mir den Pilgersegen.

Anders als in Nordböhmen fand ich nun etwas leichter Unterkunft und Verköstigung – doch der Fremdenverkehr lag auch in Niederösterreich im Argen. Grund war der Personal- und Nachwuchsmangel, wie ich allenthalben hörte, weswegen Handwerkerbetriebe, Bäcker, Metzger und dergleichen auch in ganz Deutschland aufgeben müssen.

Alle Kirchen und Kirchlein am Wege traf ich offen an, anders als in Böhmen. Die Jakobskirche von Rohrbach war mir mit ihrem schönen Barock noch lange präsent, oder die allerliebste Wallfahrtskirche Maria Bründl, bei der in einer Lourdes-Grotte wundertätiges Wasser floss. In der romanischen Kirche von Pfarrkirchen erwischte ich wieder eine Abendmesse und quartierte mich im Gasthaus ein, anstatt den Nachtmarsch bis Putzleinsdorf zu wagen.

Das erwies sich als glückliche Fügung, denn der Pfad hoch über dem Ranna-Stausee wäre bei Dunkelheit schwer zu finden und durchaus gefährlich gewesen. Tags drauf genoss ich ihn um so mehr und ließ mir auch hier ein kühles Bad nicht entgehen. Frohen Mutes passierte ich Neustift und traf Schlag eins nach Passieren der herrlich unmarkierten Grenze im Wald im bayerischen Gottsdorf ein. Der Heilige Jakobus der Ältere war Patron auch dieser Pfarrkirche und in einer sehr gelungenen Statue am Hochaltar präsent; auch ein Pilgerbruder war zu sehen an einem der Seitenaltäre.

Nach den hohen Hügeln Niederösterreichs waren wir nun im Flachland angelangt und hielten durch bis Untergriesbach. Der Hund war müde, und ich vermochte ihn nicht länger zu tragen. Fremdenzimmer gab es zunächst keine, doch als ich das Stichwort „Pilger“ erwähnte, konnte ich auswählen zwischen dem Pfarrhaus und einer Pension, die von einem ganz lieben und tiefgläubigen Ehepaar geführt wurde. „Beten Sie für uns, wenn Sie nach Altötting kommen“, sagte der Herbergsvater tags drauf zum Abschied. Im Ort wird täglich um 17.00 Uhr der Rosenkranz gebetet – ein Gelübde zum Dank für ein gnädiges Kriegsende 1945.

Der Himmel öffnete wieder seine Schleusen, und zum zweiten Mal waren wir naß bis auf die Knochen, als wir Thyrnau erreichten und dort Aufnahme im Kloster der Zisterzienserinnen fanden.

Als ich wieder trocken und gesättigt war, schaute ich mir die Schneiderei für Paramente an, für die das Kloster bekannt ist. Danach ging es auf Passau und den Inn zu – nicht mehr 100 Kilometer bis Altötting. Passau reizte mich nicht zum Verweilen, denn der Drang zum Ziel meiner Pilgerschaft wurde immer größer. In Neuburg fing es wieder an zu schütten. Ich verließ den offiziellen Pilgerweg, der Braunau und Marktl umgeht, und blieb – historisch gewiss richtig – am Inn. Bei schlechtem Wetter, schwindenden Kräften und mangelnder Unterkunft schaffte ich es nur bis Schärding und nächtigte in St. Florian.

Seit der Regennacht in Nordböhmen war dies ein zweiter Tiefpunkt meiner Pilgerschaft – wozu die ganze Mühsal, fern von den Lieben daheim? Es ging nun wahrlich nur noch darum, mein Gelübde abzugelten – die Freude an der Sache war dahin; es war genug. Ich gab Luther Recht: Ein Ablaß, mit dem man sich von seinem Gelübde lösen kann, würde die Gnade billig machen. Ich wollte mein Vorhaben durchstehen bis zum Ende. Ich mußte hindurch – auch und gerade durch einen solchen, finsteren Moment. Ultreia! Was für ein Glück, daß der brave Jakobus bei mir war. Auch seine Kräfte ließen nach, und immer mehr Kilometer trug ich ihn auf meinem Rücken. Doch seine gute Laune war unverwüstlich, und damit munterte er mich auf.

Der barocke Anblick von Schärding tat sein Übriges, um mir tags drauf wieder zu Frohsinn zu verhelfen. Nun marschierten wir stramm am Inn entlang – einem durch die Stromerzeugung vergewaltigten, schnurgerade verlaufendem Gewässer. Die Eintönigkeit ließ das Gehen komplett meditativ werden, und mit der Zeit schrumpfte die Distanz immer weiter.

Noch zweimal wurden wir komplett durchnäßt, und bei Obernberg fanden wir einen Imbiß, der von aramäischen Christen aus Syrien geführt wurde. „Jesus hat aramäisch gesprochen“, sagte ich – da umarmten mich die Brüder. Wir wünschten einander Gottes Segen.

Die Nacht verbrachte ich in einem Bauernhof in Seibersdorf – noch 55 Kilometer bis Altötting. Vor Braunau wurde das Wetter hundsgemein, als sei es dem Himmel gestattet, mir allen Zorn und Widerstand entgegenzuwerfen, den er aufbieten konnte. Zusätzlich zum Regen wehte jetzt scharfer Wind direkt von vorne. Die Autofahrer, die uns passierten, werden mich für verrückt gehalten haben, so daß auch keiner eine Mitfahrt anbot.

Bis zu dem sehr hübschen Stadtkern war Braunau deprimierend – fast jedes Haus wies Leerstand auf, keinen einzigen Laden, kein Lokal schien es mehr zu geben. Nur im Zentrum war es besser, und ich fand ein freundliches Café, in dem neben mir der Pfarrer des Städtchens speiste. Die Wirtin wollte wissen, was Gott denn für mich tue, wenn ich nun bald mein Gelübde erfüllt hätte. „Der hat schon mehr als genug getan“, sagte ich und ergänzte: „Wir haben ein gutes Verhältnis zueinander.“ „Da muß man investieren – wie in eine Ehe oder in eine Freundschaft“, pflichtete ein weiterer Gast mir bei. „Mit mir hat Er kein gutes Verhältnis“, sagte die Wirtin und lachte gequält. „Er wartet auf dich“, sagte ich. Da wurde sie ganz still, und ich sah in ihren Augen, daß sie meine Botschaft verstanden hatte. Nicht zum ersten Mal bemerkte ich, daß manche sich erkennbar über den Zuspruch eines Pilgers freuten – der doch selbst so sehr des Segens bedarf.

Kaum hatte ich das ominöse Geburtshaus Hitlers passiert, riß der Himmel auf, und leichten Fußes gelangte ich nach Marktl und wie zum Gegensatz in das Haus, in welchem Joseph Ratzinger geboren worden war. „Sie sind der erste Pilger hier“, sagte die Dame am Empfang, als sie die Jakobsmuschel an meinem Rucksack sah. „Das liegt an Braunau“, erklärte ich. „Der offizielle Pilgerweg führt gar nicht mehr am Inn entlang. Vielleicht sollten Sie das einmal ansprechen. Man muß auch dahingehen, wo es wehtut…“

Nachdem ich in Braunau in der schönen Stephanskirche an dem Taufstein gestanden hatte, in dem Hitler getauft worden war, stand ich nun, wenige Kilometer weiter, an dem Taufstein des späteren Papstes Benedikt XVI. Die Taufgnade ist dieselbe, dachte ich – doch was wir daraus machen, liegt in unserer Verantwortung. Der unauslöschliche Charakter der Taufe – wie der Weihe – schützt nicht vor schwersten Verfehlungen; dessen sollte sich alle Getauften (und Geweihten!) eingedenk sein.

Das letzte Gasthaus – 27 Kilometer vor dem Ziel. Am letzten Tag lachte uns noch einmal die Sonne – es war das Fest Mariä Namen. Das Ziel flog mir förmlich entgegen, den Rucksack spürte ich kaum, und immer wieder konnte ich den Hund obenauf setzen, ohne daß es mir etwas ausmachte. In Neuötting, das ich schließlich durchquerte, stieß ich wieder auf den offiziellen Pilgerpfad. Dann sah ich schon die Türme der Anna-Basilika und des Kapuzinerklosters, dessen Mauer ich folgte, und da wußte ich: Wir sind da – wir haben es geschafft.

Es war 16:30 Uhr, und um 18:00 Uhr würde ich in der Stiftskirche den Rosenkranz vor der Schwarzen Madonna beten können (die Gnadenkapelle war wegen Renovierung geschlossen). Die Zeit bis dahin nutzte ich, um die Stätte des Heiligen Konrad im Kloster zu besuchen – seine Pforte, seine Sterbezelle und seinen Schrein. Was für ein vorbildliches Christentum uns hier an die Hand gegeben ist! Bei einem feinsinnigen Devotionalienhändler erstand ich eine kleine, geschnitzte Kopie der Schwarzen Madonna für meine Tochter, und Pater Marinus Parzinger von den Kapuzinern segnete sie für mich mit sehr schönen Worten.

Dann nahte der große Moment. Der Hund wartete am Eingang der Stiftskirche. Als ich schließlich nah beim Gnadenbild niederkniete, überkam mich mit großer Macht ein wunderbares Gefühl von Dankbarkeit und Erlösung. So lieb und sprechend schaute die junge Frau mich an, daß mir die Tränen reichlich flossen. Der Meßner in der Sakristei, bei dem ich mir meinen letzten Pilgerstempel holte, schien das zu kennen und sagte: „Wenn die Tränen kommen, dann haben Sie alles richtig gemacht.“ Voller Anteilnahme betete ich in großer Gemeinde den Rosenkranz, verharrte dann noch einmal vor dem Bildnis und trug meine Anliegen vor, vor allem den Schutz meiner Familie und meines Volkes in der kommenden Drangsal und die Anliegen aller, die mich unterwegs um ein Gebet angehalten hatten. Zum Abschluss noch die Heilige Messe und Empfang der Heiligen Kommunion direkt am Gnadenbild…

Gnadenbild von Altötting | S. Finner: Siddhartha Finner, Dipl.Ing.-Architektur, CC BY-SA 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0, via Wikimedia Commons

1 Kommentar

  1. Hallo mein lieber Namensvetter!
    Mit großem Interesse habe ich Deinen schönen Pilgerbericht gelesen und durfte eine weitere Gemeinsamkeit feststellen: mein Vater stammt aus der Gegend um Karlsbad!
    Dein Erzählstil erinnert mich an Joseph von Eichendorff… auch wenn ich weiß, dass Du alles andere als ein Taugenichts bist… ;o)
    Es freut mich, dass Du – im wahrsten Sinne – „Dein Ziel erreicht hast“.
    Ich wünsche Dir von ganzem Herzen alles Gute auf Deinem weiteren Weg!

    Hochachtungsvoll
    Dr. Martin Kauer

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